bundesbildungsministerin schavan kann der kritik an studiengebühren nichts abgewinnen. für einen hochschulbesuch zu zahlen sei international üblich, sagte die cdu-politikerin dem „hamburger abendblatt“. niemand spreche in deutschland darüber, dass der handwerker, der den meistertitel erwerben wolle, viel geld ausgeben müsse. viele akademiker erwarteten aber, dass sie bis zum tag des examens nichts zahlten (vgl.: http://www.dradio.de/kulturnachrichten/, 24.12.2009). – „international üblich“ sind viele dinge, ohne dass man sie nachahmen muss. es bleibt zweifelhaft, ob sich „bildungsrepublik“ und „studiengebühren“ miteinander vertragen, zumal man den eindruck haben muss, es gehe weniger um eine beteiligung der wissensrezipienten (vulgo: studierenden) an ihren ausbildungskosten denn vielmehr um einen rückzug der öffentlichen hand aus der finanzierung von bildung. die jüngste bertelsmann-studie zum thema hat vor augen geführt, dass die am meisten effektive und nachhaltige wachstumsbeschleunigung in einer erhöhung der bildungsinvestitionen besteht. das beispiel sachsens aus dem 16. jahrhundert (säkularisation von kirchengut ad pias causas: neufundation der universität leipzig, gründung der fürstenschulen) und aus dem 19. jahrhundert illustrieren diesen zusammenhang offen-sichtlich. – der vergleich mit der handwerkerausbildung hinkt, denn sowohl lehrlinge als auch gesellen befinden sich (in der regel) in einem beschäftigungsverhältnis, innerhalb dessen sie sich qualifizieren, bei einer universitären ausbildung ist das (in der regel) eben nicht so. – man kann geteilter meinung über den sinn und nutzen von studiengebühren sein, nicht zuletzt auch über ihre form (etwa im falle einkommensabhängiger, nachgelagerter gebühren ist die hochschule angehalten, ihre absolventen möglichst schnell in möglichst gut bezahlte anstellungen zu vermitteln), aber es empört, mit welchen faden-scheinigen, oberflächlichen argumtenten hier gearbeitet wird. liebe frau schavan: auf einen groben klotz gehört ein grober keil – studiengebühren hemmen fortschritt und wachstum. – sie könne der kritik an studiengebühren nichts abgewinnen, sagt sie, was mithin bedeutet, sie ignoriert die arguemente der kritiker. demnach kann man der ministerin mangelnde diskussions- und kritikfähigkeit unterstellen und daraus folgern, dass den äußerungen der ministerin auch nicht viel abzugewinnen ist. wenn hierzulande die schulpflicht neun jahre beträgt, kann man auch wieder ab dem zehnten jahr schulgeld verlangen, denn wer länger in der schule bleibt, qualifiziert sich weiter – wer erwartet denn ein kostenloses abitur? und der kindergartenbesuch sollte ebenso mit straf-gebühren belegt werden, man weiß (etwa aus der erfahrung christdemokratischer ostdeutscher kultus- und bildungspolitiker), wie entwicklungshemmend und -störend sich so eine frühe trennung von mutter und kind auswirken. fragt sich nur, wohin man dann (im internationalen vergleich) gelangt. – „international üblich“ ist nicht einmal der regelmäßige schulbesuch. nochmals: wenn schon ein blick über den tellerrand und gartenzaun gwagt wird, dann aber in die richtige richtung. mehr skandinavien, weniger angelsächsische länder. wer mit glänzenden augen von harvard, cambridge, stanford, … spricht, darf indes nicht von den unzähligen universitäten schweigen, die weit unterhalb des deutschen ausbildungsniveaus liegen; wer von der akademikerquote anderswo schwärmt, sollte auch die duale berufsausbildung, wie sie hierzulande praktiziert wird, in den vergleich einbeziehen. in sachen klimaschutz oder menschenrechte ist international auch allerhand üblich, ohne dass man sich daran orientieren muss (grober keil). — es ist schon ein starkes stück, geradezu beleidigend, für wie dumm man gehalten wird. aber, ich vergaß: ein minister muss kein philosoph sein, sonst würde sich zuweilen schweigen gebieten.

eigentlich sollte man sich politische kommentare verkneifen, weniger aus der distanz zu dieser sphäre in der tradition der bekenntnisse eines unpolitischen, als vielmehr weil einen die übliche polemik mitunter derart erzürnt, dass man mit gleicher münze zurückzuzahlen wünscht und darüber die notwendige differenzierung vergisst. quod licet bovi et cetera gilt eben auch vice versa.

manchmal habe ich den eindruck, ich stünde mir selber im weg.

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heinz-peter haustein bemerkt zur beschönigend-verschleiernd „wachstumsbeschleunigungsgesetz“ benannten gesetzesvorlage (wächst das gras schneller, wenn man daran zieht – und: wächst es bis in den himmel, wo die freiheit wohl grenzenlos und alle sorgen und ängste und so weiter und so weiter), es gehe um glaubwürdigkeit. einerseits finde ich bemerkungen zur tagespolitik sehr billig, andererseits echauffiert (in der tat: echauffiert) mich diese toll-kühne behauptung (gegen alle volkswirtschaftlichen erfahrungen), steuersenkungen beschleunigten das wachstum (immer dieses wachstum, wachstum, wachstum, wie ein mantra, wachstum – was ist das eigentlich?) und finanzierten sich auf diese weise selber. glaub-würdigkeit ist in meinen augen etwas ganz anderes, wenn wenigstens einer die gegenargumente aufnähme, aber wie es kleine kinder tun, wird einem nur immer dasselbe wiederholt. der alte buddenbrook gab seinem sohn mit auf dem weg, nur geschäfte zu machen, die zwar bei tag gewinn abwerfen, aber einen bei nacht auch schlafen lassen. das ist: bürgertum. kühn wäre der versuch, diese krise ohne mehrbelastung der bürger (auch derjenigen, die noch heranwachsen …) zu überwinden – tollkühn erscheint mir der verzicht auf einnahmen bei einer absehbaren zunahme der ausgaben. das ist alles dutzendfach bemerkt worden, aber niemand geht darauf ein von denen, an die der appell gerichtet ist. ein vabanque-spiel auf die zukunft: ich weiß nicht, was soll es bedeuten – mir kommt ein wort in den sinn: zocker-mentalität. selbst wenn die gesetz-geber ruhig schlafen mögen, die gläubiger (nämlich die bürgerschaft) kann es nicht tun, wenn sie sich die situation bewusst macht, in der sie sich befindet. – die einzige verstärkung und verstetigung von wohlstand kann man über bildung erreichen: je länger man darüber nachdenkt, desto deutlicher tritt einem der zusammenhang zwischen bildungsinvestitionen einerseits und wirtschaftlicher leistungsfähigkeit andererseits beispielsweise in mitteldeutschland vor augen. die mauritianischen bildungsreformen und die (proto-) industrialisierung einhundertfünfzig bis zweihundert jahre später. man betrachte die langfristigen szenarien der studie von ludger wößmann und projiziere sie in die vergangenheit, ob man nicht entsprechungen finde. – diese unverfrorenheit beim behaupten, diese engstirnigkeit beim erörtern, unerhört. das ist kein bürgerliches verantwortungsbewusstsein, das ist ideologie: die wahrnehmung der wirklichkeit aus dem blickwinkel einer (fixen) idee. (gewiss: wie anders? aber der wesentliche, wenn auch graduelle, unterschied besteht in der berücksichtigung von gegenargumenten – und der bleibt hier, wie schon gesagt, ganz und gar aus.) alles in allem hat das etwas kindisches. die ankunft der spaßgesellschaft in der politik. der staat wird als ein gebilde verstanden, das den einzelnen hemmt und maß-los auspresst. das zwanzigste jahrhundert lehrt eine gesunde skepsis gegenüber einer allzu großen staats-gläubigkeit und staats-nähe. aber so wie es falsch ist, den staat als götzen und goldenes kalb anzubeten, ist es falsch, ihn zu verteufeln und zu dämonisieren. der staat, das ist die organisationsform, die sich seine bürger gegeben haben, um den risiken der welt begegnen zu können, ein instrument, ein werkzeug – genausowenig ein lieber vater wie ein böses ungeheuer. von wegen: liberalismus (wie wägt man die freiheiten der einzelnen gegeneinander ab?), von wegen: konservatismus (wann wird aus tradition aber-glaube: kinder werden am besten daheim erzogen …); was heißt schon: rechts, links? die oberflächlichkeit ödet mich an, das bemühen um öffentliche aufmerksamkeit mit mitteln der werbung widert mich an. vielleicht sollte man einmal die bekenntnisse des kirchenvaters augustin verschenken: glaub-würdigkeit entsteht durch das ringen mit den zweifeln, nicht durch bigottes inszenieren von standhaftigkeit. versprochen – gehalten, trat der parteichef nach den koalitionsverhandlungen vor die liberalen …

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dies academicus: vor sechshundert jahren, kleine kalender-ungenauigkeiten einmal groß-zügig übersehen, wurde im refektorium des klosters zu st. thomas von studierenden und lehrenden, die aus prag gekommen waren, im beisein der landesherren friedrich und wilhelm wettin die universität leipzig kann man sagen: aus der taufe gehoben? sechshundert jahre, das trennte den tod karls des großen, mit dessen krönung manche (wenige) erst das mittelalter beginnen lassen, vom scheiterhaufen-tod des jan hus (was wiederum einen bezug zum jubiläum des tages hat), den man als letzten gelungenen versuch der mittelalterlichen kirche verstehen kann, ihre einheit im lateinischen europa zu bewahren. sechshundert jahre, die vor einem menschenleben ungeheuer wirken, vor dem eines baumes zwar immer noch eine große zeitspanne sind, die aber mit glück durchmessen werden kann und im angesicht der sterne … in der nacht, kurz nachdem die glocken von st. nicolai und die am krochhochhaus, wo nach dem zweiten weltkrieg die sozialistische einheitspartei ihren sitz hatte und die anfangs renitente universität gut im auge hatte, zwölf uhr schlug, lief ich über den innenhof, der unmotiviert leibnizforum heißen soll, ließ meinen blick schweifen und sah am uniriesen-weisheitszahn hinauf in die städtisch illuminierte nacht, die mit dünnen wolken bedeckt war, so dass man keine sterne, wohl aber den vollen mond sehen konnte, das ägyptisch-vorderasiatische zeichen für gelehrtentum und schriftkundigkeit: ein gruß, wenn man so will, aus dem tiefsten überlieferungsgrund. gelegentlich schoben sich schleierfetzen dünner wolken zwischen mich und das hochhaus, als stünde ich nicht auf verfestigtem grund, sondern wandelte durch schwankendes moor. aber nicht allein, weil stadt und hohe schule auf sumpfigem gelände errichtet wurden, woraus manche namenforscher neuerdings auch den namen des ortes herleiten, schien mir dieser eindruck passend, sondern auch in übertragener weise angesichts als der vielen geschichten, die unterm teppich unerzählt ihr dasein fristen müssen, aber trotzdem wirken und das selbstverständnis auf diese weise derart verunsichern. – ich wollte noch die grimmaische straße entlanglaufen, über den verwaisten weihnachtsmarkt (nur mitternächtliche weihnachtsmärkte sind erträgliche weihnachtsmärkte) und vor st. thomas innehalten, sehen, ob ich nicht etwas spüren könnte, ob mir nicht etwas einfiele, aber es wurde unter der hand und ehe ich mich versah sehr spät.

wochenlang schrieb ich von einigen kleinen nachrichten abgesehen, die aber der stunde und ihren forderungen oder leidenschaften geschuldet waren, keine einzige zeile. nulla linea. ich bin, würde der psalmist vermutlich schreiben, vertrocknet wie ein verdorrter weinstock und muss mich erst wieder mühsam ins schreiben hinein finden, denn alle diese zeilen, die ich nach langer frist wieder fülle, erscheinen mir abgeschmackt, fad und inhaltsarm im vergleich zu jenen vom sommer oder vom frühen herbst.

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manchmal trifft man menschen, von dem man sofort weiß, sobald man ihnen begegnet ist, dass man ihre bekanntschaft machen muss, weil einem diese bekanntschaft anlass bietet zur zuversicht.

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glückliche woche // das haus, in dem ich wohne, / ist weder abgebrannt noch / von erdbeben erschüttert. / ich habe zu essen, auch / etwas geld. die natur / hat noch stellen, die mich versöhnlich stimmen, / und die liebe / verschafft mir genuß. / im rundfunk / ist über mich gesprochen worden, / ein freund schrieb mir erfreuliches / zu meinem buch. ich hielt / einen vortrag, der / meinen freunden gefiel, und traf / ein paar leute, / die mir sympathisch waren. / jetzt, am freitagabend, / fühle ich mich / wie der könig polykrates, / der auch nicht wusste, / dass sein glück / nur die kehrseite / aller verhängnisse war. (heinz czechowski, zit. nach: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/1073720/ [letzter zugriff: 27.11.09]). — manches mal, ausgedünnter, verteilter in der zeit; sollte man sagen: zuletzt bleibt das verhängnis?

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verschwiegenheitspflicht. aber in diesem gebirge sollte man bedenken: silber ist – reden. heimat ist nicht: heimat-film. wie etwa volkslied nicht volks-lied ist. leichter gesagt als getan: die herkunft abschütteln. man schält sich eben nicht ganz aus der schale, in die man geboren wurde. wohlgemerkt: mentalität, kulturelle muster, geschichten – nicht: blut, nicht: boden. man mag sich eine schöne neue welt einrichten, die leuchtet und glänzt, a brave new world mit bravem neuen adam, man mag glauben, die bürden abgeschüttelt zu haben, der vergangenheit, aber es bleibt einem der alte adam subkutan immerzu erhalten. man kann die alte wiese zupflastern, -betonieren, -asphaltieren. das gras zwängt sich immer wieder hindurch. – mit der „heimat“ wird man nicht im handumdrehen fertig, schon gar nicht im kasernenhofton: halt’s maul, mensch … das netz, das trägt, besteht aus den fesseln, die hemmen: das eine ist nicht zu haben ohne das andere. — andererseits ist das wort zu gewalttätig, um ironie sein zu können. einen erzgebirgsvereinmeier lockt man auf diese weise nicht aus der reserve, der zieht sich in sein bergmann- und lichterengelbewährtes schneckenhäuslein zurück und guckt nicht mehr raus.

die herkunft dringt durch.

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geträumt: in einem papiergeschäft suche ich eine karte des erzgebirges, es gibt aber nur detailkarten wie freiberg oder schneeberg, zudem fehlt die böhmische seite auf den karten ganz und gar als lägen jenseits der grenze nur terrae incognitae. ich blättere durch einen kalender, der gemalte landkarten enthält, wie man sie von grußpostkarten kennt, auf denen die touristischen glanzstücke als miniaturbild festgehalten sind. ein junger mann, der mit seiner begleiterin neben mir steht (sie scheinen zwei backpackers zu sein) und ebenfalls ein exemplar dieses kalenders durchblättert, bestätigt meinen ärger, dass es anscheinend keine gesamtkarte des sächsisch-böhmischen erzgebirges gibt, entscheidet sich dann aber doch für den kalender, das sei immerhin besser als gar nichts und sähe zudem „recht hübsch“ aus.

ich verbrachte die nacht mit dem schwärmen durch twitter-nachrichten. ich ziehe eine augenbraue in die höhe und bin – fasziniert (das ist freilich nur eine pose, ein zwinkern). einhundertvierzig zeichen wären etwa: draußen brüllt wer h.s worte vom 1.9.39. überlege, ob ich die fenster aufreiße und les prèludes auflege. oder lieber beethovens neunte? – und unter welchem namen? bligh_gets_which_her: bleigezwitscher; erz-gezwitscher, …

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wir fällen eine fichte. das abzählen der jahresringe ergibt ein alter von ungefähr hundert jahren: francisco ayala, claude lévi-strauss, … — beim zerkleinern des baumes ist der kopf frei, wie beim jäten. oder, wie mir unlängst gesagt wird, beim weinberg-pflegen. – mir kommt ein wort von, wenn ich es recht erinnere, fernand braudel in den sinn über den anfall des gewaltigen territorien-komplexes an die habsburger (ich hörte das in den letzten wochen ein gutes halbes dutzend mal, ich bete es inzwischen mit): 1477 burgund mit seinen niederen landen, 1516 die beiden spanien mit neapel und den gebieten überm meer, 1526 ungarn und böhmen mit seinen nebenländern. wegen der wechselnden verheiratungen war ein solcher anfall sehr wahrscheinlich. hier der schlachtentod eines herzogs: karl der kühne bei nancy, dort der eines königs: ludwig von böhmen und ungarn bei mohács; außerdem eine gut eingefädelte hochzeit, eine hypothek auf eine mögliche zukunft: tu felix austria nube … der zufall bestimmte nur welche gebiete an welche dynastie fielen. ich denke über andere möglichkeiten nach; ernst jünger ließ solche fragen nur in burgunderseligen stunden vorm kamin zu, aber beim holz-fällen scheint mir das auch gestattet. auf meterstücke geschnittene äste säubere ich mit der axt und werfe sie anschließend auf einen haufen. irgendwann, im licht der sinkenden sonne, bemerke ich den ästhetischen reiz dieses haufens und mache ein foto oder zwei. inzwischen habe ich mir die grübelei ein wenig abgewöhnt, was die andern wohl denken mögen, wenn ich mit der kamera umherlaufe und alles mögliche und unmögliche ablichte. (die entwöhnung solcher unnützen gedanken muss allerdings noch weitere fortschritte machen: semper notare, immer das schwarze büchlein bei der hand, die kamera – und ein internetfähiges mobiltelefon zum synchronen mitstenografieren des lebens.) auf weißem grund wäre der reiz dieses knüppelhaufens zweifelsohne noch stärker. das ist schon fast eine installation, fällt mir ein – aber ich habe natürlich keine ahnung … es gibt so viel zu beobachten, zu bestaunen (das staunen ist der beginn der anthropologie), zu beschreiben, … zu erzählen. manchmal weiß ich gar nicht, wo ich beginnen soll – und manchmal habe ich zeit und sitze an meinem schreibtisch ohne den geringsten antrieb. so viele möglichkeiten mitbekommen – und gescheitert? gescheit und gescheitert? aber immer der zweifel, auch hier, die hartnäckigkeit (die sich freilich nur im nicht-aufgeben äußert): es muss doch möglich sein, es soll uns doch gelingen. uns ist kein geist der verzagtheit gegeben, schreibt paulus aus dem gefängnis an timotheus, sondern ein geist der zuversicht. das muss man nur verinnerlichen. statt der selbstzerstörerischen geringschätzung des menschen. weniger zerknirschtheit, mehr evangelische freiheit. je länger ich darüber nachdenke, um so mehr nehme ich es den vertretern der landeskirche, die mir in meinen jungen jahren über den weg liefen übel, wie stark sie das eine betonten und wie wenig sie von dem anderen sprachen. so hält man die glieder nicht in der gemeinde, so zeugt man schon gar keine proselyten, das muss man ganz anders machen. das schlimmste ist: man kann es auch tatsächlich ganz anders machen. man muss sich nur darauf einlassen und die leute lesen lassen: sola scriptura. das wohl und wehe der welt hängt ja nicht länger von der bekenntniskonformität ab. keiner muss mehr aufs bergisch buch schwören. am ende sind die häretiker die treueren anhänger. beten heißt: sich gedanken machen – über gott und die welt. ich schweife ab, aber die abschweifung ist: prinzip; und zu abschweifung gehört auch das zurückschweifen. – während ich einen meterlangen fichtenast in der hand halte und schon die axt daran legen will, schaue ich genauer hin (darauf kommt es ja an: genauer hinschauen, immer genauer hinschauen) und stelle fest, mit einem mal und mit einer regelrechten überwältigung, die mich für eine ganze woche voller verzagtheit und unfähigkeit zum handeln entschädigt, stelle fest, wie schön er ist. die äste sind allerdings über und über mit feinem moos bewachsen, ein schwarzweißabzug gibt den reiz nur sehr reduziert wieder. — ich lege china über europa und imaginiere ein imperium romanum renovatum durch einen alternativen zusammenfall von territorien im herbst des mittelalters. im zentrum der phantasie liegen frankreich und böhmen, prag und paris. ich schweife durch so ein ständisch geprägtes europa, wie es en miniature das alte reich in seinen besten tagen eins war. irgendwo in einem palast hockt ein kaiser, mitglied einer familie, in welcher der anspruch gewählt zu werden vererbt wird; trotzdem gibt es von lissabon bis odessa, von stockholm bis palermo dutzende von zentren, in denen paläste stehen und fürsten hocken. provinz schwaben, kreis böblingen; provinz böhmen, kreis friedland; provinz sachsen, erzgebirgischer kreis, … und irgendwo in diesen provinzen und kreisen ein fichtenwald, darin ein wald-arbeiter, der bäume zerlegt und in seiner freizeit fotos und installationen davon macht …

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fichtenast

zuletzt kann man den unbehauenen ast einerseits und abererseits den entzweigten meterknüppelhaufen als einen kommentar zum problem der konformität lesen.

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wie überwindet man die müdigkeit, die verschärft wird durch dunkelheit und kälte im november? wie bewahrt man die begeisterung, die man sich am ende eines harten tages mühsam erarbeitet hat, wie bewahrt man sie über nacht, so dass man mit dieser begeisterung am andern morgen erwacht, ja: durch sie erwacht?

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ich glaube, ich würde vieles (alles womöglich, aber was heißt schon „alles“?) ertragen können, wenn ich mir nur sicher sein könnte, dass meine texte lesens-wert sind und es demzufolge sinn-voll ist, sich ein leben lang mit ihrer herstellung zu beschäftigen. freilich: diese gewissheit gibt es nicht, das weiß ich auch, man muss ins blaue hinein zuversicht entwickeln. ins blaue hinein zuversicht entwickeln können. vielleicht liegt darin die größte aufgabe und herausforderung dieses lebens: immer wieder, trotz aller gründe zur resignation („ach gib’s doch auf!“), resignation im kleinen privaten, wie im großen ganzen, trotz alledem und alledem immer wieder aufs neue un-begründete zuversicht ins blaue hinein zu entwickeln. dans le façon de sisyphos, sozusagen. ohne diese zuversicht, die zuversicht, dass es gegen alle wahrscheinlichkeit doch gelingen kann – hätten sich ohne diese zuversicht damals die einzelnen aminosäuren überhaupt verbunden? gibt es eine pflicht zur zuversicht? und wenn ja: mit welchen hilfs-mitteln kann man sie unterstützen und festigen? – wie anderen ein haus mit garten, für dessen anlage und pflege sie ihr leben im wesentlichen verwenden, scheinen es mir im meinen fall die texte zu sein. haus und garten wären auch schön, aber ohne texte geht es nicht, es wäre kein leben – ich stelle es jeden tag fest, an dem ich aus unerfindlichen gründen keine zeile (oder nur briefe und ähnliches nach den anforderungen des tages) schreiben kann. rilke schreibt an einen jungen dichter: erforschen sie den grund, der sie schreiben heißt; prüfen sie, ob er in der tiefsten stelle Ihres herzens seine wurzeln ausstreckt, gestehen sie sich ein, ob sie sterben müßten, wenn es ihnen versagt würde zu schreiben – ich bemerke, es ist zumindest kein leben, wenn ich nicht schreibe.

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