draußen ein stahl-blauer himmel, mitten im kühlen oktober ein sommer-blauer himmel, der durch das laubwerk der esche im nachbargarten scheint und schimmert. der vormittag war noch bedeckt und allenthalben trübe. der himmel hat sich schön gemacht für den neunten oktober, hat selber eine kerze angezündet – ließe sich sagen. man weiß nicht, was man zu diesem tag in dieser stadt sagen soll, zum lichter-fest, zur feierlichkeit, zum applaus, zum ärger, zur wut, zur verzweiflung, zur resignation, …; man weiß vielleicht nur eines: man kann nicht schweigen, aber das sprechen fällt schwer, hin- und hergerissen zwischen überschwang und verwirrung. zumindest verwirrung ist es. ich kann die bewegtheit aus der erinnerung nachvollziehen, die all jene erfasst, die sich vor zwanzig jahren auf die straßen leipzigs begaben, eher mit den bildern vom platz des himmlischen friedens vor augen als mit der zuversicht des gelingens im herzen. schwer zu sagen, wo dabei die konstruktion beginnt, die eine gemeinschaft begründen will (leipzig, die heldenstadt), und wo die erinnerung an eine spontane gemeinschaft aufhört, die sich un-erhörter gefahr gegenübersah, angebliche panzer in den seitenstraßen, maschinengewehre, der hass in den augen der kampfgruppenmitglieder (leipzig, die helden-stadt). beim stichwort „held“ fällt mir immer viktor klemperers bemerkung über seine frau ein. vielleicht sollte man gar nicht so viel über ein helden-tum sprechen, weder ein kollektives, das es wahrscheinlich ohnehin nicht gibt außerhalb von sonntagsreden und affirmativen dokumentationen, noch von einem individuellen; jeder, der seine angst überwindet, gegen die wahrscheinlichkeit trotzig rebelliert und aus einem geheimen, unbekannten kräfte-reservoir in der aussichtsarmut zuversicht gewinnt (wie aus scheinbar taubem gestein eben doch noch ein quäntlein silber …), der weiß doch über sein eigenes helden-tum bestens bescheid, einschließlich aller zweifel und allen zögerns. zu wissen: einmal habe ich mich selber überwunden, einmal habe ich gekämpft, den guten kampf, den lauf vollendet – um den ring … man gerät ins fabulieren, wenn man nicht dabei war; man gerät ins verklären, wenn man dabei war. aber vermutlich erlebt nicht einmal jeder so einen moment im leben. wie sich die angst verbreitet in einer masse von herden-tieren, die wir tief in inneren regionen des stammhirns noch immer sind, verbreitet sich auch die kühnheit, aber was ist das für eine seltsam kanalisierte kühnheit gewesen, wo die einen auf die andern achtgaben, dass sich keiner vom überschwang hinreißen ließ: wir sind das volk, wir sind das volk, aber alle dennoch mitgerissen wurden von der parole: schließt euch an, schließt euch an. es liegt ein widerspruch darin, wenn eine masse von siebzigtausend menschen skandiert: keine gewalt, keine gewalt. als potentiell linientreuer jugendfreund fällt einem womöglich ein: eine idee, wenn sie die massen ergreift, wird zur materiellen gewalt – ein marx-wort. keine gewalt, keine gewalt, … was ergriff diese siebzigtausend? the leipzig seventy-thousand? war es eine idee, war es, gut dreihundert jahre nach christian thomasius, zweihundert nach immanuel kant und hundert jahre nachdem mit friedrich nietzsche offenbar die ganze welt dem wahnsinn anheimfiel, „wahnsinn!“, das wort der „wende“, war es ein kurzer augenblick der aufklärung, ein moment, in dem man mut hat, den eigenen verstand gebraucht, sich vom gängelband löst – und sei es nur für eine kurze weile? viel wichtiger als die frage, ob es derlei gewesen ist an jenem neunten oktober, scheint es mir zu sein, wie man so einen augenblick bewahren kann, wenigstens in der schwankenden launischen erinnerung, wie man ihn vermitteln kann. – als nach-geborener steht man immer nur da-neben und so tief und gründlich man auch schürft und gräbt, man überwindet nie die distanz in der zeit. man steht und staunt. das einzige, was man wohl berechtigterweise tun kann, ist es fragen zu stellen. weder steht es einem zu, berauscht mitzujubeln als sei man dabei gewesen, noch steht es einem zu, alles, was erreicht wurde, was geschehen ist, in bausch und bogen zu verdammen. – man kommt abermals nicht herum: was war dieser neunte oktober? und bevor man sich (ich mich) in pathetische, staats-tragende, affirmative allgemeinplätze ergeht oder auf der anderen seite über die schwierigkeiten der gegenwart die weitaus ärgeren der vergangenheit vergisst, verdrängt, verzerrt – und zwar aus schierer unkenntnis, bevor man phrasen nachplappert und nachbetet, solche und solche, sollte man schlicht fragen: was war dieser neunte oktober – für mich? manchmal ist die bezugnahme auf sich selbst kein ausdruck von übertriebenem subjektivismus, sondern die einzige möglichkeit für authentizität.

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man kann nicht umhin: die ddr wäre 60 jahre alt geworden – und die häfte ihres tatsächlichen alters, zwanzig jahre, besteht jetzt schon dieses nachwende-deutschland, das man mit dem label berliner republik auch nicht recht fassen kann.

wenn man durch leipzig läuft und sich die ereignisse vom herbst noch einmal vor augen führt, will es einem immer noch erscheinen wie eine fata morgana. manchmal ist es als könnte man die rufe noch hören, wir sind das volk, wir sind das volk, trotz alledem und alledem – oder gehe ich da ton-installationen auf den leim? am neunten oktober war die chinesische lösung wahrscheinlicher als alles andere – und weniger als ein jahr später wurde die wieder-vereinigung vollzogen, mit der, wie immer man sie im einzelnen bewerten mag, eine rückkehr zu den alten verhältnissen, eine restauration des ancien régime unmöglich machte. die sächsisch eingefärbten rufe vor den ruinen der frauenkirche „deutschland einig vaterland, deutschland einig vaterland“ wirken immer noch grotesk. die bedrückende verzweiflung einer frau, die anfang oktober vergeblich versuchte, in die amerikanische botschaft in ostberlin zu gelangen, ist inzwischen so un-wirklich geworden, dass man sich nur verwundern kann über die veränderungen, die erst vierzig jahre auf sich warten ließen und dann, als sei eine stau-mauer in der zeit gebrochen, um so heftiger über die welt geradezu hereinbrachen. wenn man sich die frisuren und bärte, die kleidung und gesten jener demonstrierenden oder ausreisenden ostdeutschen, aber auch die aufgeplustertheit der west- oder altbundesdeutschen (und zwar sowohl in hinsicht auf ihre bekleidung als auch auf ihren gestus) noch einmal anschaut, bekommt man einen eindruck davon, wie weit weg, wie fremd das alles geworden ist. man könnte leicht mit thomas mann vom „historischen edelrost“ sprechen, mit dem dies alles überzogen ist.

und ich selber muss mir eingestehen, dass ich auf ostdeutscher seite eher systemkonform gewesen wäre, allenfalls ganz verborgen hinter vorgehaltener hand vorsichtig und klug schwafelnd kritik geäußert hätte – und noch dazu in dem sinne, dass der sozialismus eigentlich erst noch verwirklicht und die stalinistische pervertierung davon überwunden werden müsste. ich hätte mich weder zu einer massiven systemkritik aufraffen können, weil ich nicht erkannt hätte, wie grundfalsch das system war und notwendigerweise diktatorisch sein musste, noch hätte ich den mut aufgebracht, mich einzumischen und vom bürgersteig auf die straße zu treten. ich wäre entweder ein buckliger mitläufer gewesen oder längst an dem system zerbrochen. auf westdeutscher seite hätte ich ohne zweifel zu jenen gehört, die sich längst mit der teilung abgefunden hatten und denen die toskana näher war als leipzig oder dresden, die für reformen, aber gegen wiedervereinigung waren, ganz bei lafontaine, gar nicht bei kohl. aber, wer weiß schon, wie er in einer bestimmten „geschichtlichen stunde“ tatsächlich reagiert hätte? man darf sich über irreale konjuktive nicht grämen, wie man sie andererseits auch nicht benutzen darf, um nur irgend einschlafen und die gegenwart halbwegs aushalten zu können.

kann man sich in münchhausenweise an den eigenen worten aus dem sumpf der verzagtheit ziehen? oder braucht man einen gesprächs-partner – in analogie zu dem physikalischen gegen-part, den man zu jeder bewegung, zu jeder kraftanwendung braucht?

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wie eine spinne vor meiner fensterscheibe ein insekt verschlingt, beobachte ich gerade und frage mich, ob man solche beobachtungen sozusagen synchron via twitter posten sollte? – wenn goethe hätte twittern können …

welcher zugegeben eher heimatkundlichen frage man auch mal nachgehen müsste: haben sie in j. seinerzeit bewusst ihre neue kirche nach der lutherischen hauptkirche in prag sankt salvator genannt? – das scheint insofern plausibel, wenn man unterstellt, dass sich die gemeinde als arme exulantenstadt inszenieren wollte, um aus dresden und von den anderen gemeinden sachsens unterstützung zum kirchenbau zu bekommen.

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wir wanderten über den pressnitzer pass ins böhmische hinein. in einer fernsehprogrammzeitschrift wäre zu lesen: / oktobertage in christophhammer, / tschecho-slowakisches melodram / nach motiven von milan kundera, / 196*. – auf dem pressnitzer pass, knapp über achthundert meter hoch, fast genau auf halber strecke zwischen leipzig und prag (jeweils sind es einhundertdreißig kilometer oder zwei stunden fahrtzeit), machte ich zwei fotos, blick ins sächsische, blick ins böhmische, wo man herkommt, wo man hingeht. – der charakter des dazwischen-seins an dieser ur-alten grenze, das hybride an dieser heimat wird ganz augenscheinlich an dem umstand, dass die bergstadt, die jenem pass den namen gab (oder der pass der stadt), seit fünfunddreißig jahren unter wasser liegt: böhmens atlantis, wenn man so will, wo der student anselmus mit seiner geliebten serpentina auf dem gut des archivarius lindhorst lebt; bohemia – a desert country near the sea …

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überflog noch s.ens beitrag in der festschrift für s. b. darin spricht er von der „innovationsfähigkeit der menschen“, die den unterschied mache zwischen der bewältigung von versorgungskrisen (die immer auch wirtschaftskrisen sind) in den alteuropäischen gewerberegionen. im sächsischen erzgebirge fuße sie auf einer guten ausbildung der bevölkerung. – meine rede: die schuldichte ist ein zentraler faktor dafür, dass die industrialisierung in der region so früh und so massiv platz greifen konnte. bildung und proto-industrialisierung gehen dabei hand in hand: die tätigkeit im bergbau bzw. in gewerben, die ein überproportional hoher teil der bevölkerung (bezogen auf das verhältnis in den agrarisch geprägten kursächsichen ämtern) betreiben, vermittelt neben der schulischen allgemeinbildung technisches wissen und technische fertigkeiten. man müsste hier mit kempowski anfügen: da mal genauer nachforschen …

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geträumt: ich fahre die innere bahnhofsstraße hinauf. linkerhand ist ein schmales haus eingerüstet, putz ist abgeschlagen. erkennbar wird, dass es ursprünglich nur aus einem riesigen, gewölbten fenster bestand, das sich über die gesamte front ausdehnte. später muss es zugesetzt worden sein, denn jetzt hat das haus ganz normale türen und fenster. die merkwürdige vergangenheit erkennt man aber erst durch den fehlenden putz. ungemein interessiert mich der grund für diese ursprüngliche architektur. ich bin versucht, ein foto zu machen, aber wie immer, fahre ich weiter und ärgere mich schon im nächsten moment, nicht angehalten zu haben. – weiter oben, in höhe der scharfen ecke, wo die innere bahnhofsstraße in kirch- respektive schlösselstraße einmündet, ist über die gesamte straße eine große, mehrstöckige doppelgarage gebaut worden, deren unteres geschoss eine art durchfahrt darstellt. ich frage mich, warum diese garage genau dort errichtet werden musste und wer das wohl genehmigt hat. wie ich durch die unterführung fahre, träume ich nicht mehr.

„im idealfall ist jede schule eine polis, eine kleine republik, in der demokratie nicht nur gelehrt und gelernt, sondern auch gelebt wird.“ (im glanz der hymne, in: sz, s. 38.) – sage ich ja: eine schule ist eine gesellschaft im kleinen. schulbesuch infolgedessen eine art gesellschafts-kunde – nur ganz anders, als es eigentlich sein sollte: man lernt sich in hierarchien einzufügen und effizient damit umzugehen, das heißt mit allen mitteln den größtmöglichen nutzen bei geringstmöglichem aufwand zu erzielen, was die … modifikation moralischer prinzipien einschließt. – ganz abgesehen von den gewalt-verhältnissen, die dort herrschen und die auf jede_n teilnehmer_in einwirken, wie ich unlängst mit c. p. begeistert erörterte; dieser zwang zur einordnung in eine hierarchie, von denen die lehrer nur einen teil bilden, der übrige, vielleicht weitaus prägendere sind die mit-schüler. wenn man von kommilitonen spricht, von mit-kämpfern, ist man auch ganz schnell bei hobbes, dem krieg aller gegen alle, dem wölfischen charakter des menschen. ein subtiler krieg wird noch immer geführt, es kommt kaum wer zu tode, aber jeder leidet schaden an seiner seele. es gibt vermutlich, muss ich betübt feststellen, keine alternativen. man kann dieser hierarchie nicht entkommen und nicht der gewalt, die auf einen ausgeübt wird und die man ausübt, aber wenn ich mich in den knaben zurückversetze, der ich einmal war, erschaudere ich vor der gewalt. wenn man einmal mit einer solchen brille die welt betrachtet, erscheint sie nicht nur als ein tollhaus, sondern als ein böser ort. die frage ist durchaus berechtigt: wieviel gewalt steckt in einem plastikbecher? in einer einkaufspassage einer mittelgroßen stadt mit ihren textilgeschäften und der dauerbeschallung durch fließband-musik (alter kulturpessimist!), in die dann auch noch von den hörern unmengen von gefühlen projiziert werden, … wieviele stille katastrophen der verzweiflung ereignen sich just in diesem augenblick? man kann insofern nur erstaunen, wie wenige tatsächlich amok laufen. was tun wir uns einander an?

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u. fragte mich gestern: du schreibst aber doch gerne? ich hatte wieder einmal meine zweifel geklagt, ob ich denn ein dichter, schriftsteller, historiker, … sei. ich halte aber lust für keine legitime kategorie. es kommt zum einen darauf an, wie die eigenen texte von den lesern bewertet werden – was mir an positiver kritik begegnet, scheint mir dadurch verzerrt, dass mich die leser kennen. zum anderen hängt es von der beurteilung der texte durch leute vom fach ab – und in der beziehung mache ich mir nichts vor: tief in meinem innern weiß ich, dass ich zu denen gehöre, die glauben, sie könnten gut schreiben – es zuletzt aber doch nicht tun. die annahme, man werde nur verkannt, ist keine position, von der man aus nach vorne stürmen kann, während engel furchtsam weichen. mag sein, dass ich talentiert bin mit dem einen oder anderen, aber ich kann es nicht in existenzsichernde tätigkeiten ummünzen. andererseits werde ich das schreiben auch nicht lassen können, ja mehr noch: es wird mit schwindenden aussichten auf auswege und alternativen immer bedeutsamer werden. die entwicklung von zuversicht ist mir nur auf diese weise möglich (…)

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letzten freitag schrieb ich in rascher eile vier bis fünf zettel mit fragen zur erzgebigs-thematik voll, (…) so stark war der drang, schnell noch diese paar fragen aufzuschreiben, dass ich mich wieder niedersetzte und rasch eine seite um die andere füllte. gestern abend (…) fragte ich mich, ob es wohl sinnvoll wäre, diesen katalog zu veröffentlichen: einerseits kann ich damit nachweisen, zu welchem zeitpunkt ich die einzelthemen zum ersten mal aufgriff, auf der anderen seite besteht freilich immer auch die gefahr, dass man jemanden auf eine idee bringt. so ein bißchen wie in einer fabel, wo der redliche esel den acker pflügt und wenn er einmal auf eine silberader stößt, kommt der fuchs herbei mit spaten und spitzhacke, um sich selbst ans werk zu machen … – das ist allesamt so ein enges besitzstandsdenken in fragen geistigen eigentums.

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manchmal stelle ich mir vor, ich könnte mich mit einem zerfledderten reclam-heftchen voller gedichte (kito lorenc) in eine ecke flätzen, nachdem ich von einem langen tag heimgekehrt bin, eine zigarrette anzünden und darin lesen, bis mir selber ein paar zeilen einfallen. mimikry.

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ich brauche zwei stunden, um genügend kraft aufzubringen, mich freiwillig in die welt zu begeben. ich fürchte mich vor anfeindungen, schmähungen, hiobsbotschaften – im grunde genommen bin ich unfähig, auf probleme zu reagieren, noch das kleinste trifft mich ins mark. vielleicht ist das die kehrseite der sensibilität? – andererseits sitze ich am schreibtisch und kann gar nicht erwarten, weiter zu machen, ja zu beginnen. mit dem lesenscheibendenken. mit dem forschen. mit dem – .

in der esche vor meinem fenster / reiben zwei krähen ihr gefieder aneinander / und stieben kurz darauf aus dem geäst in / verschiedene richtungen davon.

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