gegen das ende hin mit dem literaturnobelpreisträgerzitat vielleicht etwas dick aufgetragen, aber im grunde zutreffend über den impuls zur publikation im netz: (…) denn bei aller vielstimmigkeit hat dieses selbstgespräch, stellt robert musil in „der mann ohne eigenschaften“ fest, auch etwas beruhigendes. der schriftsteller spricht von der „erzählerischen ordnung der dinge“, in die die menschen ihre leben bringen und die ihnen sicherheit schenkt. (…) mittels des online-publizierens können sie sich einschreiben in den faden der erzählung, ihren eigenen lebensfaden einweben in die aufreihung all dessen, was in raum und zeit und vor allem öffentlich geschieht. (…) es wäre falsch zu glauben, dies sei den bloggern (…) nicht bewusst, wenn sie sich veröffentlichen. sie interpretieren es aber anders: weniger als möglichen „stolperstein für ihre berufliche karriere“ denn als versprechen dessen, was das ziel eines jeden gesprächs ist: gegenseitiges verstehen. vielleicht, so die hoffnung, gibt es draußen jemanden, dem es genauso ergeht wie mir. herausfinden wird man es nur, wenn man sich veröffentlicht. man sollte also vorsichtig sein, die wachsende veröffentlichung im netz einzig als indiz für einen fortschreitenden kulturellen niedergang zu lesen. zielführender wäre es, der häufig abschätzig gestellten frage des warum die frage nach dem wie entgegenzuhalten. denn schließlich wirkt die formulierung „leben, um davon zu erzählen“ nur für all diejenigen wie das motto eines geschwätzigen internet-nutzers, die vor lauter kulturpessimismus vergessen haben, dass der literaturnobelpreisträger gabriel garcía márquez so seine autobiographie betitelte. (dirk von gehlen, über uns. die kritik am missbrauch von daten hat ihre berechtigung. aber warum geben viele im internet ihre persönlichsten dinge preis? eine diagnose, in: sz wochenende 216/2009, s. 1.)

unlängst wurde auch eine studie veröffentlicht („amerikanische forscher haben herausgefunden …“ dass es zu fuss weiter ist als übern berg und braune schuhe wärmer sind als hohe …), wonach das internet eben gerade nicht zu einer ent-alphabetisierung führt. da teilhabe daran nur durch lese- und schreibfähigkeit ermöglicht wird, zwingt es (verlockt es …) zur alphabetisierung und zur ständigen verbesserung dieser fähigkeit. auf diese weise schlägt in mehr fällen als bisher, wenngleich auch nicht in allen, die quantität irgendwann in eine neue qualität um. außerdem weckt die vielfalt einerseits den ehrgeiz, es wenigstens genauso gut zu machen, wie diese oder jener, und andererseits die schöpferische gestaltungskraft, um sich in dieser vielfalt stärker abzuheben. besagte studie ermittelte, dass die hälfte von texten heutiger studenten netzpublikationen sind – die vergleichsgruppe aus den neunziger jahren schrieb und publizierte nicht etwa anderswo, sondern gar nicht. insofern kann man die angebote und möglichkeiten des so genannten web-zwei-null auch als impulsgeber für eine neue literarizität betrachten: es wird nicht grundsätzlich besser geschrieben, indem mehr geschrieben wird, aber es entsteht doch eine größere zahl von texten höhere qualität. der untergang des abendlandes ist aufgeschoben, was man statt dessen beobachten kann, ist eine weitere transformation, aber das war ja schon zu gutenbergs zeiten so.

die frage bleibt: bin ich etwa ein blogger? weil mein impuls zum (be-)schreiben des eigenen lebens, zum „mitstenographieren“, aus dem wunsch kommt, zu verstehen und verstanden zu werden, sich auszusetzen und in die weltnacht zu halten, um zu sehen, ob es da draußen noch jemandem so ergeht. ich möchte vielmehr annehmen, dass das medium des weblogs meinem ohnehin und schon lange zeit (immer …) bestehenden bedürfnis entspricht, sich auszudrücken und mitzuteilen. aber das sind, bei lichte betrachtet, nur galant-gelehrte versuche der differenzierung und distanzierung. zuerst und zuletzt verhält es sich so, da zitiert von gehlen musil ganz zutreffend: die meisten menschen sind im grundverhältnis zu sich selbst erzähler. vielleicht kann man die großhirnrinde noch genauer als eine erzähl-maschine statt als eine sinnstiftungs-maschine beschreiben, denn wie wird sinn anders gestiftet als durch erzählungen? es geht darum, die verwirrenden und widersprüchliche vielfalt der wirklichkeit in einen nachvollziehbaren, widerspruchs-freien zusammenhang zu bringen. sich in der welt verorten und in der zeit. geschichte schreiben durch geschichten-schreiben, wenn man so will. insofern ist es ganz zutreffend, von der geschichte als lehrmeisterin des lebens zu sprechen. – ich äußere mich, um mich zu ver-orten. wenn dabei ein teil dieser äußerungen ver-öffentlicht werden kann, weil es die möglichkeit dazu gibt, heißt das nicht, dass ich ein blogger von echtem schrot und korn bin – oder wir wären’s alle. ohne jeden zweifel ist es so, dass ich mit diesen veröffentlichungen dem rauschen der texte nur einen unbedeutenden klang hinzufüge. aber das ist nicht die entscheidende kategorie.

Veröffentlicht unter meta | Schreib einen Kommentar

geträumt: die erde ist offenbar von fremden erobert worden und die menschen von ihnen als fließband-arbeiter zwischen den sternen zerstreut worden. ich komme mir vor, wie ein internierter, der in einen waggon gesperrt und zu meinem tod transportiert wird, der zug rollt, ich bin fest daran gebunden und sehe das unausweichliche, bin aber zugleich aller möglichkeiten beraubt, daran etwas zu ändern. die furchtbare erkenntnis, nur als biomasse von belang zu sein, während das eigene empfinden und denken ohne belang ist. vielleicht werden diejenigen, die nicht als batterie oder ähnliches verwendet werden, aussortiert, denn zuletzt komme ich doch in eine werkstatt, wo es sich einigermaßen erträglich leben lässt. irgenwie gelingt es uns, die fremden aus dem ort und von diesem planeten zu vertreiben, so dass sich, irgendwo zwischen den sternen eine kleine kolonie freier menschen bilden kann. allerdings wissen wir nicht, wo wir uns befinden und haben keine möglichkeit, zur erde zurückzukehren, ja nicht einmal mit jemandem anders kontakt aufzunehmen. wir verstehen die technik der fremden nicht und ich bin der letzte mensch, der sich an das leben auf der erde erinnern kann. wir fangen wieder bei adam und eva an. die kleinste krankheit wird zum desaster, mehr als mein schulwissen über bakterien und viren kann ich nicht bieten. – die größe des weltraums und die ungewissheit der zukunft überwältigt uns alle, während wir uns zu einem essen versammelt haben. da stehe ich auf und beginne laut zu beten. – will ich mir sagen, ich sei ein prediger? drückt sich auf diese weise eine neigung zum predigen aus?

das wandern in der landschaft und das schreiben auf dem papier sind bewegungen aus dem gleichen impuls heraus – nur in verschiedenen medien: es geht um die eigene verortung in raum und zeit. um die frage zu beantworten: wer bin ich? muss man fragen: wo bin ich, wann bin ich und, vor allem: wie ist geworden, was mich umgibt?

hier hisst keiner mehr eine rauchfahne als zeichen von arbeiter-stolz. allenfalls flattert hier noch eine schnapsfahne im wind.

trümmer des angerfabrikschornsteins

kräutergestaltige kobolde drängen aus dem wald auf den weg. sie haben astdünne hölzerne ärmchen und beinchen. ob ihre gesinnung friedlich ist oder feindlich, ob sie womöglich menschenfresser sind oder nur neugierig auf die wanderer, bleibt unklar, aber ganz geheuer ist einem die szenerie nicht: gefahr liegt in der luft.

Veröffentlicht unter erinnerung, erzgebirge, poetik, selbstethnografie, traum | Schreib einen Kommentar

seit wochen, ja wenn ich es mir recht überlege: seit jahren, lebe ich in einem dumpfen zwielicht vor mich hin und versuche methoden zu finden, um das feindselige verstreichen der zeit nicht wahrnehmen zu müssen. was hast du denn getan? seit wochen, so scheint es mir, habe ich keine zeile geschrieben und je länger diese pausenphase anhält, desto unzufriedener werde ich, desto weniger gelingt mir, desto stärker schwinden die kräfte, die aufgaben des tages und der stunde zu bewältigen. es gibt so vieles zu tun, dass ich in wachen augenblicken, kurz bevor ich einschlafe, kurz nachdem ich aufgewacht bin, darüber erschrecke wie vor einer flutwelle oder einer folterstunde, zu der man einbestellt wird. dabei sind diese aufgaben ins einzelne aufgelöst, ohne weiteres zu bewältigen. hier eine stunde, dort ein tag (wobei mir, zugegeben, die fähigkeit fehlt, einstweilen fehlt, die notwendige zeit für eine bestimmte aufgabe zu kalkulieren). aber in ihrer massivität schlagen jahre auf mich ein, drohen am horizont des kommenden tages und befördern einen fluchtreflex in die untätigkeit. zuweilen erlebe ich dazwischen, wenn man so will: momente des glücks, in denen mich eine aufgabe so fasziniert, dass ich es gar nicht erwarten kann zu beginnen. beispielsweise als ulrich thiel vom freiberger bergbaumuseum meine auffassungen zu den desiderata der erzgebirgs-geschichte bestätigte; oder als ich abends nach meinem vortrag nachgerade ins schwärmen geriet über die möglichkeiten und aufgaben, die einem bei dieser beschäftigung begegnen. aber das sind alles nur kurze augenblicke und dazwischen bin ich von der frage erfüllt, ob das auch alles richtig und wichtig ist, was ich da tue und treibe. es fehlen die positiven verstärkungen, das schulterklopfen, ohne dass man darum gebeten hätte, das freundliche wort zwischen tür und angel. forderungen allein richten einen zugrunde, zumindest stumpfen sie einen so weit ab, dass man, kommt man aus dem trott der jahre gelegentlich zur besinnung, sich erstaunt, erschreckt die augen reibt und fragt: war es das, weshalb du ausgezogen bist? – ich brauche halbe tage, bis ich mich soweit beruhigt habe, dass ich mich an den schreibtisch setzen und ans werk begeben kann. kraft-voll, vorwärtsstürmen, wo engel furchtsam weichen – ich kenne das, ich vermag das, in manchen momenten. das wäre es ja: aufwachen und sofort wissen, was zu tun ist. nur schnell an den schreibtisch wollen, es gar nicht erwarten können, trotz müdigkeit, kälte und fehlender freundlichkeit. aber man kann nicht wollen, was man will. man merkt den sätzen an, den texten mit fußnoten oder ohne, ob man sie sich aus den eingeweiden gewrungen hat wie ein paar tropfen wasser aus einem stück fast trockenen stoffs. die brennende trockenheit der müdigkeit, in den augen, im ganzen leib. – selbst wenn ich mich auf eine sache konzentrieren wollte, sind die anderen doch immer gegenwärtig; ich finde keine ruhe, eine aufgabe zu erledigen, ich hetze von einer zur anderen, um sie zu beruhigen wie eine schar schreiender kinder, aber zuletzt verhungern sie mir alle: hundert esel und nur ein heuhaufen. ich renne von einem zum andern, kann aber nirgendwo lange bleiben, so verstreichen die tage, die jahre in wilder hast, aber trotz des vielen staubs, der aufgewirbelt wird, bleiben die äcker darunter unbearbeitet.

Veröffentlicht unter selbstethnografie | Schreib einen Kommentar

stündlich, minütlich, ja von augenblick zu augenblick wechseln tiefste verzagtheit und große zuversicht. ich halte alle welt für feindlich gesinnt – insofern wenigstens, als sie mich und den prekären charakter meiner schwebenden existenz durchschaut. verlässlichkeit erzeugt vertrauen, setzt aber zugleich vertrauen voraus, zuerst und zuletzt in sich selbst. wo man sich selbst nicht traut, seiner fähigkeit, in einer bestimmten situation zu bestehen und eine bestimmte, zumal selbstgewählte aufgabe, zu bewältigen, schlingert man in einen teufelskreis hinein, aus dem so schwer zu entkommen ist wie einem schwarzen loch. schweigen hilft nicht, selbstbeschimpfung hilft nicht. wie kann man sich aus dem sumpf der eigenen mängel ziehen; wo sitzen die kräfte, die einen in die lage versetzen, sich zu ver-ändern. du kannst dein leben ändern – gewiss, allein, es bleibt die frage: wie? – dabei ist das eingeständnis, hilfe zu benötigen, alles andere als unlauter. aber so sehr ist man, bin ich auf individualität getrimmt, dass einem kooperation wie der offenbarungseid der eigenen unfähigkeit erscheint. man kann lange nach wurzeln und gründen dafür suchen, ich würde wohl auch vieles finden, aber das hilft nichts, hilft gar nichts, die entscheidende frage lautet: wie? wie überwindet man diese (offensichtliche fehl-) einschätzung?

gleichzeitig kommt mir meine reise nach mikulov/niklasberg und mein vortrag dort, kommen mir alle meine großen und kleinen erlebnisse wie ein traum vor: ich erinnere mich zwar, es tauchen bilder und worte auf, gespräche und gesten, aber mir scheint, als sei es nicht ich gewesen, nicht wirklich ich, der dort war und dies alles erlebte.

ich sitze im sessel und jede stunde überfällt mich eine tiefe müdigkeit. während ich die augen schließe und versuche einzuschlafen, kommen mir sätze in den sinn, die mir schön erscheinen, aber ich fürchte mich vor der müdigkeit so sehr, dass ich die augen geschlossen halte und mich nicht aufraffen kann, sie zu öffnen, papier und stift in die hand zu nehmen und diese sätze aufzuschreiben.

manchmal stelle ich mir vor, wie ich abends an meinem schreibtisch sitze, draußen ist es finster, nur die lampe erhellt den raum. aufgeräumt das zimmer und der schreibtisch, nur eine mappe mit notizen und ein sauber geschichteter stapel bücher, tee dampft aus einer tasse weißen porzellans. – was ich an material hätte in all den jahren zusammentragen können, wenn ich nur mit bestimmtheit hätte entscheiden können, was ich wollte. – der r.? der wühlt in seinem erzgebirge herum. – r.s opus magnum … – – aber dann erfasst mich immer eine müdigkeit und die vorstellung bleibt: ein traum.

Veröffentlicht unter selbstethnografie | Schreib einen Kommentar

viel steht nicht mehr. vom verschwinden der industrie-kultur mitteldeutschlands. man macht ein foto, aber man bemerkt gar nicht die gewalt, die einem selber mit diesem abriss wiederfährt: es wird einem etwas entzogen. hüllen der erinnerung. gedächtnis-stützen. es macht, wenigstens: traurig. sie gehen mit einem moderne-hobel über die landschaft und glauben, wenn sie die ruinen tilgten, stellte sich die zukunft von alleine ein. aber was ist das für eine zukunft? eine mischung aus imitierter spätachtzigerjahre-bundesrepublik und einkaufspassagen-ästhetik. es war einmal ein land, in dem gab es nur noch einkaufspassagen, aber niemanden mehr, der einkaufen konnte. unsere schöne neue welt bietet utopien und dystopien am gleichen ort. allen sonntagsreden vom aufbau ost zum trotz wird diese gegend allmählich wüst fallen. auch wenn man es unverständlich als demographischen wandel bezeichnet, es bleibt: trost-los. nach fünfhundert jahren ent-siedelt sich das gebirge wieder. zwischen buchenmischwäldern schmiegen sich hier und da ein paar kleine häuslein aneinander, bewohnt von leuten, die nirgendwo gebraucht werden. der langsame abgesang des berggeschreis.

Bild 005

Veröffentlicht unter erzgebirge, mitteldeutschland | Schreib einen Kommentar

je länger der schlaf umso größer der mut; schläft man zu wenig, will die verzagtheit nicht weichen, schläft man zu lang, wird man leicht über-mütig. – die sorgen des tages ziehen uns hinab ins meer des schlafes bis zum grund, wo sie leichter und leichter werden, so dass wir un-beschwert wieder auftauchen zwischen den kissen unseres bettes, auftauchen müssen. daher rührt vermutlich auch der wunsch, zu schlafen und nur immer zu schlafen, gar nicht mehr aufwachen zu wollen und sich vor den schrecknissen der welt unter der bettdecke zu verbergen.

Veröffentlicht unter selbstethnografie, traum | Schreib einen Kommentar

im augenblick schwimme ich, habe das gefühl, auf rohen eiern zu balancieren (und darunter der grundlose abgrund, nirgendwo eine rilkesche hand, die alles fallen auffängt). trotzdem fühle ich mich verhältnis-mäßig wohl. erstaunlicher-weise. – bei face-book gibt es die kategorie „was machst du gerade?“; in einem beitrag hörte ich vor einiger zeit eine leipziger (sic) studentin schwärmen, damit könne sie immer sehen, was ihre „freunde“ so machten, beispielsweise sei eine in eine neue wohnung gezogen, eine andere hielte sich in ihrer küche auf – wie darf man sich das vorstellen: immer ein internetfähiges mobiltelefon bei der hand und beschreiben was man tut (näher an eine stenografie des eigenen lebens kann man wohl kaum rücken, es bleibt zwar die frage: cui bono, aber das ist an dieser stelle nicht von belang). soll ich also im stakkatorartigen telegrammstil annähernd synchron beschreiben, was ich tue?

ich stieß, als ich nach der richtigen schreibweise für rossleben (roßleben) suchte, auf georg fabricius, der dort die einrichtung einer (knaben-) schule im ehemaligen kloster (ad pias causas …, wir wissen’s) beaufsichtigte. er studierte bei johannes rivius in annaberg und stand später als rektor der meißner fürstenschule im zentrum des kursächsischen bildungs- und gelehrtennetzwerkes, das prägend auf die „signatur der bildungslandschaft mitteldeutschland einwirkte. („die signatur der bildungslandschaft mitteldeutschland“: / wir stehen an der elbe zwischen dibesfere und seuselitz / und reden b l a b l a mit dem wasser albis fluminis, / während die berge montis misniae sich sanft wie die tiere aus dem böhmischen bohemica regione geduckt / zur ostsee mare baltici schieben). fand ich ihn zufällig? – man müsste einmal eine beziehungskarte zeichnen, um dieses netzwerk, wenigstens für sich selber zu visualisieren.

es ist schon wieder fünf nach eins; früher hieß es mal fünf vor zwölf … – ich operiere nur noch mit zettelchen, auf denen ich die kleinsten dinge aufschreibe, weil ich sonst alles vergesse.

Veröffentlicht unter böhmen, erzgebirge, historiografie, mitteldeutschland, mitteleuropa, selbstethnografie | Schreib einen Kommentar

das gibt es nicht, das leben, das man noch einmal beginnt.

das paradoxe an der revolution von 1989, die man wohl trotz aller guten und schlechten gründe als wende bezeichnen muss (vox populi), besteht darin, dass sie mit den grundstürzenden veränderungen im osten deutschlands überkommene strukturen im westen bewahrte – und damit für das ganze land. ohne einheitstaumel wäre die regierung kohl abgewählt worden, wenn es nicht einen putsch in den eigenen reihen gegeben hätte. wenn man länger darüber nachdenkt, wird man von den möglichkeiten, die in der wirklichkeit schlummern, ganz in den bann geschlagen.

die kennzeichen der lutherischen spiritualität sind nüchternheit und langer atem, heißt es.

national-hymnen: man kann natürlich nicht die brecht-eisler-hymne singen und die kinderhymne ist, obgleich nicht in diesem maße, auch von der zweiten deutschen diktatur geprägt. die haydn-fallersleben-hymne ist andererseits wieder verunglimpft, vielleicht noch übler, durch den nationalsozialismus und den anschluss des horst-wessel-liedes, das einzige, was für sie spricht, ist die demokratische tradition, die sie auch birgt. insofern, da ist antje vollmer wohl zuzustimmen, bringt sie am besten die gebrochene tradition dieses landes aus dem vormärz durch die diktaturen des 20. jahrhunderts in diese ungeliebte, ungewollte, provisorische republik, die paradoxerweise am beständigsten zu sein scheint. wenn man den fallersleben-text auf die eisler-melodie gesungen hört, geht einem im ersten augenblick das herz auf, aber bald bleibt einem die freude im halse stecken, denn unter der feierlichkeit verbirgt sich eine gewalt, wie sie der moderne wesentlich ist. alte not gilt es zu zwingen / und wir zwingen sie vereint / denn es muss uns doch gelingen / … – selbst dieser schiller-text mit der verschlankten beethoven-melodie ist befleckt, etwas arg pathetisch klingt er außerdem. ich kann der meinung immer stärker zustimmen, beethoven hätte besser daran getan, auf den schlusschor zu verzichten. zuletzt bleibt nur die so genannte reformations-hymne, das lutherische lied von der festen burg übrig, sowohl text als auch als melodie kommen in keiner weise gewalttätig daher, ganz ohne zweifel tapfer und unerschrocken, aber nicht gewalttätig. damit kann man niemanden aufstacheln, damit kann man nur jemanden ermutigen, durchzuhalten und nicht zu resignieren. das ist das lied für die schnecke, für den sisyphos: und wenn die welt voll teufel wär / und wollt uns gar verschlingen / so fürchten wir uns nicht so sehr [wie wir sollten und wollten] / es soll uns doch gelingen. im „sollen“ steckt das vertrauen auf ein gutes ende, wie es der engel in bethlehem verkündet und wie es paulus an timotheus schreibt; im „doch“ steckt der trotz, der wahrscheinlichkeits-trotz, wie er in dem zweifelnden, furchtsamen augustinereremiten vor kaiser und reich zu ahnen ist, wie er in der osternacht gestalt gewinnt, wie es der evangelist lukas im achtzehnten kapitel schreibt: was bei den menschen unmöglich ist, das ist bei gott möglich. wo immer man ihn verorten mag – überm sternenzelt oder unterm schädeldach.

Veröffentlicht unter deutschland, theologie | Schreib einen Kommentar

wir sprachen über nationen und nationalitäten. l. fragte mich, ob ich mich als deutscher fühlte: man kann sich nie so ganz aus dem ei schälen, in das man geboren wurde. das vergessen immer diejenigen, die kein gutes haar an land und leuten lassen – um sich, so kann man vermuten, damit aus der verantwortung gegenüber der geschichte zu winden, die auch den nachgeborenen zukommt. selbstbeschimpfung ist kein mittel, um mit der bürde der vergangenheit umzugehen und man entgeht der bürde nicht, indem man sich des deutschen zu entledigen versucht: wohin man auch geht, welche sprache man auch lernt, welcher kultur man sich auch immer anzugleichen bemüht, ein rest wird bleiben. – ein paar kilometer weiter südlich und ich hätte tschechisch gelernt, wäre tschechisch sozialisiert worden. aber ich bin in den … deutschen sprach- und kulturraum geboren und dort aufgewachsen, die sprache und kultur prägten mich so sehr, dass ich ohne sie (sondern mit dem tschechischen beispielsweise) nicht derjenige wäre, der ich heute bin. es ist eine illusion zu glauben, man könnte sich ganz von seiner herkunft lösen – und aus der bürde, die damit verbunden ist. — ich habe keine zeit, das ins einzelne auszuführen, das muss ich zwar gewiss einmal tun, aber im augenblick fehlt mir die zeit und damit die freiheit zum schweifenlassen der gedanken.

Veröffentlicht unter anthropologie, deutschland | Schreib einen Kommentar

geträumt: traurig verlasse ich einen verwinkelten, wuchtig-ausgedehnten gebäudekomplex, es regnet, es ist kühl, es ist herbst. ich trage einen beigen mantel; ein leuchtend roter seidenschal strahlt in die welt: ich weiß nicht recht, ob mir der revolutionär-widerständige eindruck, den der schal bei den anderen zu erwecken scheint (wie ich denke), peinlich ist oder ob er mich im gegenteil nicht stolz macht. wie ich aus dem gebäude trete, kommt h., ebenfalls mit einem beigen mantel gedankenversunken bedächtigen schrittes darauf zu. allerdings trägt er den mantel zugeknöpft und hat um den hals einen dunklen (grün, schwarz, blau?) schal gebunden. ich nicke ihm grüßend zu, bin mir aber unsicher, ob er mich gesehen hat. er denkt vermutlich auch (denke ich mir), in meinem fall handele es sich um einen windigen gesellen. das stimmt vielleicht auch. ich habe keine kraft mehr, etwas anderes vorzugaukeln, nicht der welt, nicht mir selbst. ich laufe weiter, freue mich nach hause zu kommen an den schreibtisch, aber mir ist schon klar, dass ich den nachmittag vergeuden werde. h. (denke ich mir) ist bestimmt nur kurz von seinem schreibtisch aufgestanden und zu einer vorlesung, einem seminar gelaufen; seine vorbereitungen hat er im kopf, was den unterschied zwischen uns vergrößert, denn in meinem kopf gibt es nur verwirrende, sich widersprechende gedanken, ein hühnerhof voller aufgescheuchter, verängstigter gedanken (im hintergrund spielt die staatskapelle dresden jean-philippe rameaus la poule, heinrich schütz steht am pult). was ist disziplin? wie verbindet man die freiheit (alles tun oder lassen zu können) mit der pflicht (etwas bestimmtes zu tun)? es regnet weiter. ich überquere eine vierspurige, mäßig befahrene straße; auf einer verkehrsinsel in der mitte, wo ein platz für fußgänger zum warten eingerichtet ist, hockt eine junge frau und sammelt triefend nasse, spitze ahorn- und plantanenblätter, teils noch grün, teils schon bunt. ich spekuliere darüber, warum sie, ausgerechnet bei diesem wetter, so viele blätter sammelt, dass sie beide hände benutzen muss. vielleicht (denke ich mir) verziert sie ihre briefe übers jahr mit genau solchen blättern – oder sie bastelt gerne. ich bin verblüfft: eine junge frau, die in ihrer freizeit nicht tanzen geht und einen mann zu erwischen versucht, sondern bastelt. ich sehe zwar nur ihren gebeugten rücken, auch sie trägt einen beigen mantel, und ihre lockigen dunkelblonden oder sehr hellbraunen haare, aber sie scheint sympathisch und hübsch zu sein, obwohl (oder vielleicht vielmehr weil) sie mit herbstlaub bastelt. sie erinnert mich an melusine, obwohl ich gar keine genaue vorstellung von melusine habe. (ich träume schon von meinen figuren … – wie krank ist das denn?, höre ich d. sich entrüsten.) auf der anderen straßenseite laufe ich zu meinem auto, das in einiger entfernung geparkt steht. der wind lässt mich ein wenig frösteln, mein hals kratzt, meine nase läuft, mein kopf ist dumpf wie bei einer erkältung – eben fühlte ich mich noch wohl, als ich an der blättersammlerin vorüberlief. – der wecker reißt mich aus dem schlaf, von diesem regnerischen straßenrand und ich bin froh darüber, dass mein hals nicht kratzt. – morgen ist september, das macht mich traurig, weil sich meine bilanz in diesem jahr (so scheint mir) bislang auf null beläuft und sich daran nichts ändern wird. im gegenteil.

Veröffentlicht unter selbstethnografie, traum, universität | 3 Kommentare