geträumt: verschiedenes, das ich indessen alles vergessen habe.

mauerbau.

ich finde beim aufräumen eine ältere notiz aus diesem frühjahr: mir fällt nichts ein, kein gescheiter satz, so dass zu befürchten steht, dass ich einstweilen nur gescheiterte sätze niederschreibe, denn schreiben muss ich, um wenigstens etwas zu tun. ich stehe auf dem spitzberg, der wind weht scharf und wirbelt mein haar. ich rede blabla und fühle mich mäßig wohl, weil ich zwar einerseits rede (schreibe), aber andererseits eben nur blabla. trotzdem muss ich fortfahren in der hoffnung, der appetit komme beim essen.

und noch eine zweite: in der „wende“ steckt das „ende“, aber sie weist darüber hinaus, es ist kein ganzes, vollständiges ende, beileibe kein „ende der geschichte“ (fukayama) – sondern lediglich eine veränderung, eine wandlung des geistes, der umstände. was ging voraus, was folgte verzögert nach? diese wende ist ein weiches ende, ein fließender übergang. hier steht nicht das omega, nicht einmal ein kleines als ausrufezeichen, es ist nur eine wende, eine aller ehren werte kehre.

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geträumt: der wirtschaftsredakteur der faz besucht mich, um mit mir über die aktuelle krise zu sprechen, er fährt in einer schweren, schwarzen limosine mit chauffeur vor; später will er mir aber nur die prinzipielle funktionsweise der marktwirtschaft anhand des beispiels eines würstchenverkäufers erklären. ich bin enttäuscht und höre gar nicht mehr hin. – weiteres: ich unterhalte mich mit einer jungen frau, sehr sympathisch, ich bin guter dinge, aber ich kann mich an keine einzelheiten mehr erinnern. immer wieder wache ich auf und schlafe beruhigt ein, nachdem ich auf die uhr gesehen und festgestellt habe, dass noch zeit bleibt, bis der wecker läuten wird.

was für ein schönes wort ist doch: neubeginn.

… where i should go, could go, would go …

die letzten tage des staufers konradin: sie entsetzen um so mehr, weil die hoffnungen auf ihn so hoch und sein sturz deshalb nur desto tiefer war. gefoltert und gequält in den verließen des karl von anjou, dem der papst das königreich sizilien zusprach, schließlich rollt sein kopf vom block des scharfrichters. hoffnungen vor allem der nachwelt auf einen günstigeren gang der geschichte – aber es fragt sich, ob ein deutscher nationalstaat, der sich im späten mittelalter und der beginnenden neuzeit parallel zu frankreich etwa, spanien oder england auf dem soliden fundament eines nordalpinen stauferreiches entwickelt, so viel günstiger gewesen wäre. was heißt überhaupt in diesem zusammenhang: „günstiger“? andererseits bedauert niemand all die namenlosen, die in den staufischen folterkellern nicht minder grausam zu tode gequält wurden. es bleibt die merkwürdige obsession, solche folterszenen im detail zu kennen. das ist keine bloße schaulust, das ist ein weiden am leiden anderer. der schrecken, der einen packt und in die glieder fährt, wenn man sich in das opfer hineinversetzt, ist nur ein erregender nervenkitzel, denn man spürt die schmerzen nicht, man selber darf weiterleben, unbeschadet, nicht verkrüppelt.

pappeln gaukeln italien vor. italiänisch.

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es ist unmöglich, die fülle der gedanken festzuhalten und ins einzelne auszuführen. ich war ein wochenende lang damit von früh bis spät beschäftigt, einige gedanken niederzuschreiben, die ich zuvor in stichpunkten notiert hatte. obwohl ich drei tage dazu verwendete, bin ich nicht einmal mit dieser liste fertig geworden. aus einem gedanken ergibt sich ein weiterer und immer so fort. wo es keine vorstellung gibt, was gesagt werden soll, sonder die assoziation das einzige prinzip ist, kann es kein ende geben. die gedanken treiben immer weiter, der text generiert sich aus sich selbst heraus. die müdigkeit und der mangel an zeit und raum zwingen zum abbruch. alles ist scheitern, könnte man insofern sagen, ohne sich der verzweiflung anheim zu geben, denn: scheitern heißt lediglich nicht ganz gelingen. aber der abbruch ist stets mit traurigkeit verbunden. denn während man schreibt, weiß oder ahnt man zumindest, was man noch alles notieren könnte, sollte, müsste. in die befriedigende erschöpfung am ende eines solchen tages mischt sich ein tiefes bedauern über all die gedanken, die nicht festgehalten werden konnten, deren verästelte einzelheiten unbedacht blieben. – die vorstellung, was ich in der vergangenheit, in den letzten zehn, fünfzehn jahren hätte alles notieren können, ist eine illusion. wie heute die zeit fehlen würde, gäbe ich mich nicht mit einem geradezu selbstzerstörerischen furor diesen zeilen hin (und nur diesen; alles andere ist trost-los), fehlte sie auch in diesen jahren. freilich: es kommt auf die prioritäten an (binsenweisheit …). und wer gezwungen ist zu schreiben, schreibt. sicherlich stimmt es auch, dass man sich erst allmählich eine form zu sehen und zu schreiben schaffen muss, dass man sich ferner emanzipieren muss von sprech-tabus – aber trotz alledem hätte ich nur einen bruchteil von dem notieren können, was mir alles so in den sinn kam. ganz abgesehen davon, dass sich die gedanken erst beim verfertigen entwickeln, so dass ich aus dem, woran ich mich erinnere, nicht unbedingt die menge der notizen hochrechnen kann. nicht zu ermessen, wohin mich die worte und gedanken geführt hätten. vermutlich musste aber so viel zeit ins land gehen, mussten so viele erfahrungen gesammelt werden, bis ich diese priorität so setze. von früh bis spät schreiben, weil ich schreiben muss, von früh bis spät lesendenkenschreiben, weil ich lesendenkenschreiben muss. ich kann von dem vierzehnjährigen, der ich einmal war, nicht diese un-bedingte bereitschaft erwarten. einstmals bemühte ich mich, auf alles und jeden rücksicht zu nehmen, so hatte ich kaum zeit und konnte erst recht kaum etwas notieren, wenig schreiben. gewiss: ich wusste auch nicht, was ich notieren und schreiben sollte und ich hatte angst davor, die entstehenden texte würden meine mittelmäßigkeit beweisen. gleichwohl trug die allzu große rücksichtnahme, wie mir heute scheint, nicht unwesentlich zur beschränkung meiner möglichkeiten bei. ich weiß heute, jetzt: man muss manches mal rücksichtslos seine interessen bevorzugen, nicht zuletzt um, paradoxerweise, die souveränität und gelassenheit zu gewinnen rücksicht nehmen zu können. anders ausgedrückt muss man nein sagen lernen, um ja sagen zu können (noch eine binsenweisheit, aber wie es mit ihnen so geht, man muss die erfahrungen bitter machen, denn eine binsenweisheit befolgt man anders nicht). ich merkte an diesem wochenende, wie ich ruhiger, freundlicher und rücksichts-voller wurde, weil ich mich den ganzen tag auf meine dinge konzentrieren konnte. wenn man sich gezwungen fühlt, aus einer geschuldeten rücksichtnahme heraus, dieses und jenes zu tun, kommt man nicht zu seinem eigenen, denn irgendwann ist man auch müde – und ungehalten ärgerlich dazu. hat man sein tagwerk hinter sich, sind die zugeständnisse leichter möglich. wo die hilfe ein zusatz zum tagwerk ist, krönt sie es. das ehrenamt darf die eigentliche aufgaben nicht ersetzen. das gerät schief, da darf man keine aus-zeichnung erwarten, kein lob, keine ermutigung. wo es sie ergänzt, zeichnet es den menschen aus. – ich stelle mir vor, ich kaufte mir ein kleines dina6-notizbuch (oder eben ein heft in dieser größe) und hielte darin alle beobachtungen und gedanken fest, wenn ich nicht daheim war und am rechner sitzen konnte. an dem blauen siemens-nixdorf-rechner mit dem ausgefallenen design. (ich nahm beim kauf fälschlicherweise an, magisches denken!, besonders geformte werkzeuge würden es mir erleichtern, ermöglichen, tätig zu sein und besonderes zu vollbringen. die konzentration auf das arrangement des arbeitsplatzes ist dabei eher kontra-produktiv: stell einen tisch in eine stube, einen stuhl davor, leg ein blatt darauf, nimm einen bleistift und sit down and start up. es genügt. ein gedicht lässt sich nicht von besonderem papier und gutem stoff beeindrucken, es kommt oder es kommt nicht.) aber ich frage mich zugleich, ob ich tatsächlich alles hätte so notieren können, selbst wenn ich es wahrgenommen hätte und notieren wollen. immer wäre die gefahr vorhanden gewesen, dass jemend diese notizen gelesen hätte. ich erinnere mich, wie ich einmal schreiben wollte, ein protagonist hätte sich verliebt. ich war vielleicht neun oder zehn und saß in der klasse meiner mutter, während die anderen sportunterricht hatten, von dem ich dispensiert war. aus der furcht, ich könnte beobachtet werden, jemand könnte mitlesen, während ich schrieb, ließ ich eine lücke und ergänzte das wort später. ich hatte lange zeit angst vor der entblößung. heute besitze ich wenigstens so viel gelassenheit und souveränität, dass es mich nicht weiter kümmert, wenn wer mein schwarzes notizbüchlein in die hände bekäme und darin läse. eher im gegenteil: um deutlich zu machen, wieviel mehr hinter der vermeintlich uninteressanten buchhalterfigur mit pollunder und bleistift hinterm ohr steckt, als die ich erscheine, wäre es mir zuweilen ganz recht, es läse eine-r darin. man muss dich entdecken, wurde mir so häufig gesagt, dass es offenbar tatsächlich eine differenz zwischen dem ersten und dem zweiten blick gibt. es (er-)kenne mich die welt. heute weiß ich: je mehr man sich entblößt, desto mehr verbirgt man sich. ich stelle mir vor, ich eile über den annaberger markt in das papiergeschäft am platze, kaufe mir eine notizbuch und beginne zu schreiben. lesendenkenschreiben. ich stelle mir vor, ich warte auf die nächste stunde, während meine klassenkameraden (klingt so nach drittem reich und zweitem weltkrieg …) sportunterricht haben, und notiere. ich stelle mir vor, ich komme nach hause, setze mich an den rechner, den blauen, und notiere. fünfundzwanzig, dreißig seiten im monat, säuberlich ausgedruckt und abgeheftet in aktenordner 1995, 1996, 1997, … stapel von papier und büchern: strittmatter, brecht, thomas mann, ernst jünger, hoffmann, proust, … gedichte. geschichte. lokales. zeitungen. ich stelle mir vor, ich trüge beim heuwenden, schneeschippen, kartoffellesen, … immer mein notizbüchlein bei mir. ein differenzierter ausdruck setzt differenzierte eindrücke voraus. – ich lag heute morgen im bett und war sehr niedergeschlagen: am liebsten würde ich mit einem großen stapel bücher irgendwohin fahren und dort von früh bis spät lesendenkenschreiben. dann fiel mir ein: von früh bis spät bücher lesen und schreiben kannst du überall, auch dort, wo du gerade bist. sit down and start up. daraufhin ging es mir besser und ich konnte aufstehen. ich griff aus dem regal wahllos ein buch (friederike mayröcker, das licht in der landschaft, frankfurt am main 1994.); kaum hatte ich zwei seiten gelesen, als mir eine fülle von einfällen kam. aber sie alle notieren – ist unmöglich. allenfalls ein gehetztes stenogramm kann gelingen, ein stenogramm des lebens.

ein tag ist ein guter tag, wenn ich drei seiten schreibe – und seien sie gefüllt mit notizen dieser art. wie sagt walter kempowski über das tagebuch: tage ohne eintrag kommen mir dumm und leer vor. (zit. nach: ein etüdenspiel. kempowskis antwort zum thema tagebuch, in: volker hage: walter kempowski. bücher und begegnungen, münchen 2009, s. 106.)

am abend eins so erfolglosen tages braucht man eine frau. ihm käme nichts so erlaubt vor, wie jetzt mit der bedienung zu schlafen. (…) woher kommt eigentlich die immer in uns lebendige hoffnung, dass sich unser leben noch einmal ändern wird? (…) die leute, die sich pessimisten nennen, sind jene, bei denen diese immer schlummernde und halbwache hoffnung besonders heftig ausgebildet ist, (…) das leben fordert helden auf jedem platz. (…) wäre alles so schön wie die frauen, dann wäre alles schön. (martin walser, leben und schreiben. tagebücher 1951-1962, reinbek bei hamburg 2005, s. 342 passim.)

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die sentenz, wonach derjenige, der ein amt (eine aufgabe) bekomme, damit zugleich auch die kraft, es auszufüllen (sie zu lösen), ist das positive gegenstück zu der auf das gehirn (auf fähigkeiten und talente) bezogenen, wonach man es benutze oder verlieren (use it or loose it). sie begegnete mir zum ersten mal bei ernst jünger und scheint mir merkwürdig zu seinem wesen zu passen. überhaupt habe ich zuweilen den eindruck, dass die ergebnisse der modernen seelen- und hirnforschung (seelen- und hirnforschung ist immer modern, äußerst modern nachgerade, immer ganz nah am puls der zeit …) einen rationalen, wissenschaftlichen beleg liefern für annahmen, die in der tradition des naiven rationalismus der aufklärung bislang immer dem gebiet des irrationalen, spekulativen, romantischen zugeschrieben wurden.

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das elektronische fiepen meines weckers klingt wie eine reihe von gewehrstößen, die in den frieden und die stille einer zu ende gehenden nacht abgefeuert werden.

in einem guten gedicht schimmern zwischen den worten und den bildern, die sie hervorrufen, weitere möglichkeiten der existenz auf. ein solches gedicht zeichnet sich durch seine fähigkeit aus, die wirklichkeit schillern zu lassen, so dass der verborgene reichtum darin wenn nicht fassbar, so doch wenigstens spürbar wird. (was ist wirklichkeit? – nichts weiter als die überlagerung von phantasien: treffen wir einen, der unsere verrücktheiten bestätigt – laub ist blau, frauen können auf besen durch die luft fliegen, der markt regelt sich selber, kohlendioxid erwärmt die erde, essen hilft gegen hunger, … – halten wir sie für wirklich und handeln, als seien sie wirklich, so dass sie, ob wirklich oder nicht, wirkung entfalten.) das detail einer stimmung, einer beobachtung, eines gedankens, … tritt so plastisch in erscheinung, dass plötzlich eine zweite wirklichkeit neben derjenigen vorhanden ist, die einem vor augen steht. gedichte sind erinnerungen an eindrücke und erlebnisse, die man selbst nie hatte:

ich rief / in der enteilenden dämmerung / nach einem namen. // grünhäutig / standen die weiden. / noch war es nicht sommer. // wie lang / war ich nicht in drübeck gewesen, / im vorhof des schweigens, / wo mit gegabelten wipfeln / vielhundertjährig / die linde steht, / grün bis zu den füßen, / als stürbe sie nicht, / wenn auch der stein, dessen schirmherr sie ist, / der jahrtausendealte, verwittert. // und groß ist ihr schatten, / unnütz nicht wie der unsere. / denn / wohin sollten wir gehen / in der enteilenden dämmerung, / wenn die gefesselten äste / die stählernen bänder zerreißen / und die labyrinthischen zweige / übers gesicht uns streichen, / ohne zu trösten? (uwe grüning, erinnerung an drübeck, in: ders., innehaltend an einem morgen. gedichte, berlin 1988, s. 20.)

(…) an der windschutzscheibe flügel / winziger erschlagener engel. (reiner kunze: raumfahrt im wagen des gastes, in: ders., auf eigene hoffnung. gedichte, frankfurt am main 2003, s. 13.)

vor der rathausfassade, / wo sich verwirrt / der straßen netz / zu einem tückischen knäul, / hält mit seiner brettkarre / der straßenkehrer, / wenn gemachen schwunges er / den markt fegt / zum samstag. (…) (wulf kirsten, marktflecken, in: ders., die erde bei meißen. gedichte, frankfurt am main 1987, s. 47.)

im garten sitze ich, am runden tisch, / und hab den ellenbogen aufgestützt, / daß er, wie eines zirkels spitze, / den mittelpunkt der welt markiert. / ein baum umgibt mich mit vielfachem grün, / und langsam steigt das blütenreiche meer / des frühen jahrs. die vögel brülln wie irr. / über mich hin spazieren schöne schatten, / und blütenblätter fallen auf den tisch / und schmelzen, schnee! die äste triefen schwarz, / und von der straßen her kommt ein geräusch, / das war mein leben. plötzlich bin ich luft / und sitz noch hier und rede zu dem baum, / ob er nicht doch die länder wechseln könne, / sein unerhörtes blühen aufzuführen, / wo einer noch mit seinem ellenbogen / den mittelpunkt der welt markiert. (thomas rosenlöcher, der garten, in: ders., ich lag im garten bei kleinzschachwitz. gedichte & zwei notate, halle/leipzig 1982, s. 7.)

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geträumt: wir haben wieder einen kater, allerdings ein ausgewachsenes exemplar. bis auf einen kleinen weißen fleck auf der linken seite ist das fell samtig schwarz. ich frage mich, wie peinlich so ein fleck einer katze sein muss. als ob man ein mal auf der stirn trüge. jeder erkennt: eine promenaden-mischung, mehr nicht. da kann man doch gar nicht mit eleganz, würde, ernst und souveränität durch das viertel schreiten. die katze nimmt schnell besitz vom haus und ehe man es sich versieht, hat sie sich in einem gästebett zur ruhe gelegt, fast sieht man sie nicht unter der bettdecke, nur der kopf mit den ohren ragt hervor und auf der anderen seite die schwanzspitze, die in einem sanften rhythmus wippt. – ich trage ein kanu über eine unbefahrene, mehrspurige straße, es ist nacht, quecksilberdampflampen leuchten; beim tragen hilft mir ein großer wasservogel: ich trage das kanu vorn überm kopf, das hintere ende ist dem vogel auf den rücken gelegt. so schleichen und watscheln wir über die straße.

auf dem weg zu s., während ich an der sportfakultät vorüberfahre, denke ich an w. und wie sehr sie sich nach meinem eindruck im vergangenen jahr verändert hat. sie scheint mir fester und bestimmter geworden zu sein, sicherer im urteil, klarer in den absichten, engagierter, mutiger, sich selbst bewusster – allesamt dinge, die mir fehlen. ich stelle mir ihren tagesablauf vor und stehe staunend vor der imagination, wie ein technikbegeisterter knabe in einer turbinenhalle, wie ein fränkischer ritter in konstantinopel: das gibt es alles also, das alles ist also menschen möglich. der knabe denkt an das wasserrädchen, das er angefertigt und in den bach hinterm haus gesenkt hat, wo es leise klappert (klippklapp …); der ritter denkt an seine zugige burg und das dorf davor, in dem die schweine im schlamm der straße wühlen; ich denke an meine aufgaben, an die vielen zettel und notizen, die einfälle, die ausgeführt werden müssten, nur ausgeführt werden müssten – und werden könnten, nähme ich mir ein herz (meins) und setzte kurzerhand grund- und ur-vertrauen (wider besseren wissens). ich denke an mein dumpfes, stumpfes, planloses, amorphes leben im schwülen, stickichten, amphibischen dämmerlicht. vielleicht hat sie sich gar nicht so sehr verändert, vielleicht habe ich mich nur verändert, wer weiß. wenn ich meine aufgaben nur beherzt angehen könnte: erst dies, dann jenes, mit verve, mit fortune … das alte lied, das alte ideal, der lebens-wunsch: nach vorne stürmen, wo engel furchtsam weichen. ich weiß nicht mehr, heißt es bei rilke: „du musst dein leben ändern“ oder heißt es: „du kannst dein leben ändern“? u. war immer skeptisch, was große planungen und zielsetzungen anbetrifft; s. rät mir das genaue gegenteil: wo willst du in einem jahr stehen, in fünf jahren, in zehn? aus der rückschau auf das jahr 1999, das ich noch sehr präsent habe, aus dem ich noch aufzeichnungen habe und in dem ich mich letzten endes bereits mit den gleichen fragestellungen und problemen herumschlug, folglich bis heute keine antwort und keine lösung fand, sehe ich zum einen, dass meine vorstellungen zu ambitioniert waren, ich rechnete keine rückschläge und keine mühen mit ein, ich nahm an, mir fiele (weiterhin, ja noch leichter) alles in den schoß, ich schätzte und setzte meine eigene trägheit zu gering an. zum andern waren meine vorstellungen zu unspezifisch und nicht detailliert genug, einmal um daran fortschritte ablesen zu können (und gegebenenfalls: veränderungen vornehmen zu müssen) und einmal, um zu wissen, was tag für tag, monat für monat, … zu tun ist. aus der rückschau sind zehn jahre einerseits eine gewaltige zeitspanne, die man kaum ermisst und übersieht, andererseits bieten sie einigen raum, um sich verschiendene aufgaben zu stellen und sie zu erledigen. – bei der lektüre der texte, die mir s. zurückgab, wurde mir zweierlei klar. erstens: ich brauche einen plan für die fertigstellung der texte, der nicht zu dicht sein darf (sechzig seiten in einem monat sind zwar möglich, aber zwei seiten an einem tag sind, aus der erfahrung heraus unrealistisch – zumal wenn daneben noch anderes zu erledigen ist; werden’s mehr, ist die freude umso größer; es dürfen nur nicht weniger sein als vorgesehen; die erfüllung eines plans selbst befriedigt schon). und zweitens: ich kann es schaffen. die texte sind offensichtlich lesbar, man kann mit ihnen arbeiten und daraus etwas vorzeigbares machen. ein plan, genau genug und zugleich offen genug, mit eingebauten kleinen tricks, etwa: immer ein paar gedanken aufbewahren, damit die rückkehr an den schreibtisch nicht zur qual, sondern vielmehr zur lust gerät. man muss sich auf die ersten zeilen freuen, diebisch freuen, um sich nur rasch niederzusetzen und zu beginnen, denn sobald man erst einmal im text steckt, kommt man ein gutes stück voran. mäßigung bedeutet hier: nicht alles an einem tag aufschreiben wollen, was einem in den sinn kommt, um statt zwei oder allenfalls drei vier, fünf, sechs, … seiten zu füllen – mit der folge, in den nächsten sieben, acht, neun, … tagen keine einzige zeile zustande zu bringen.

vor einiger zeit verfolgte ich im radio mit halbem ohr eine sendung, in der es um die gefahren ging, die mit einer allzu unbedachten und unbedarften publikation von bildern, texten und schriftlichen gesprächen im internet verbunden waren. man müsse lernen, sich in diesem medium in einer bestimmten weise zu präsentieren. immerhin vergesse das netzgedächtnis nichts – und, an dieser stelle kam der entscheidende gedanke, jeder personaler befrage erst einmal die einschlägigen und weniger einschlägigen suchmaschinen, bevor er einen zweiten blick auf den bewerber werfe. ich stelle zwar weder anzügliche fotos von wilden orgien ins netz, weil ich nicht zuletzt darüber gar nicht verfüge, noch verwende ich kompromittierende, gewalttätige oder obszöne worte  und wendungen (welches wort ist obszön, gewalttätig? warum? außerdem: man unterscheide davon fiktive, belletristische texte, in denen die konvention gerade darin besteht, konventionen zu brechen), aber man kann sich schon fragen, welche wirkung die veröffentlichung von auszügen (!) meiner tagebuchaufzeichnungen in einem blog hat und haben kann. einschränkend muss ich freilich zugeben, dass ich mit der auswahl trotz allen bemühens um wahrhaftigkeit (wann ist man wahrhaftig, wie weit vermag man aufrichtig zu sein, wo liegen die grenzen der selbsterkenntnis? das nosce te ipsum ist keine leichte sache …) eben doch ein bestimmtes, gewolltes bild erzeugen und vermitteln will. aber das tue ich in veränderter form auch mit den aufzeichnungen insgesamt. der authentische, soziologisch-psychologische blick auf sich selbst ist unmöglich: man steht im blinden fleck seiner selbst. ganz abgesehen davon, dass es bestimmte sprachnormen gibt, die ein öffentliches sprechen über spezifische themen verbieten. man spricht nicht über: die eigenen begierden, die sorgen der eigene existenz, eigene träume, traumata, vorurteile, stereotype, fehler, … es gilt: quod scripsisti, scripsisti. tabus und political correctness hemmen die wahrhaftigkeit, die anpassung an diese muster verkrüppeln das individuum. da lauern dann die verschwiegenen, verdrängten leichen und monstren in den geheimen kammern der seele und schwingen sich zu heimlichen herren auf. nachts, während des schlafes (der vernunft), wagen sie sich hervor, schleichen sich auf die flure und überziehen alles mit einem trüben schleiernetz. sie zu bezeichnen heißt sie bekämpfen, daran glaube ich fest, aber dieser kampf wird einem schwer gemacht. trotzdem vertraue ich darauf, hoffe ich darauf, dass die formel, die dem doktor johann faust die (er-)lösung aufzeigt, auch hier gilt. die beurteilung eines menschen und die bilanz eines lebens müsste also weniger unter dem kriterium erfolg-misserfolg sondern nach der ernsthaftigkeit der absichten und bemühungen vollzogen werden. wenn man sich selber überprüft, stellt man fest, wieviel man eigentlich notieren kann. nicht allein die unfähigkeit zu beobachten und der mangel an beobachtungen selbst begrenzen die menge der notizen, auch die eigenen beschränkungen – neben den gesellschaftlichen tabus – engen den gesichtskreis ein. verblüffend ist die erkenntnis, wieviel es eigentlich zu sehen gibt, wenn man sich von den befürchtungen befreit, was die andern alles denken könnten, denken werden, l(a)esen sie, was man aufgeschrieben hat. ich notierte vor einiger zeit: family off limits. heute frage ich mich: warum eigentlich? aufschreiben kann man alles, was man sieht, denkt, fühlt, …, man muss es ja nicht jedermann zu lesen geben. aber, ich wiederhole mich, das be-schreiben befreit. sehen lernen schließt die späne und balken im eigenen auge mit ein; sie zu entfernen, hat man sie einmal erkannt, versteht sich von selbst. es geht jedoch keineswegs darum, ein marktfähiges bild zu erzeugen, mich etwa personalmanagment-tauglich zu präsentieren. ich verzichte an dieser stelle auf das zitat der bekannten sentenz von max liebermann und belasse es bei der andeutung. es geht um wahrhaftigkeit, wie pathetisch, wie problematisch, wie schwierig dieser begriff und das konzept, das dahinter steht, im einzelnen auch immer sein mag. ich bin mir vermutlich der ansprüche nur begrenzt bewusst, die mit einer solchen zielsetzung verbunden sind (scheitern heißt ja lediglich: nicht ganz gelingen). es geht um eine möglichst authentische, allenfalls (selbst-) kommentierte und immer wieder (selbst-) kommentierte dokumentation der eigenen beobachtungen, befindlichkeiten, meinungen, urteile, … und deren – notwendigerweise – gebrochenen charakter. man könnte sagen: durch die oft wiederholte darstellung von selbst-stilisierungen wird die selbst-stilisierung gerade gebrochen. dabei ist zu bedenken, dass jeder biografische text, ob kurz oder lang, ob er über einen tag berichtet oder über ein leben vergröbernd und stilisierend ist, wie sehr man sich auch um das gegenteil bemühen mag, ja jeder biografische text ist ich-stabilisierend und -konstruierend. es eröffnen sich aber zwischen diesen brüchen für einen selber wie für einen potentiellen leser ausblicke und perspektiven über die einzelnen beiträge, die einzelnen stilisierungs-texte hinaus. man wird dabei womöglich, vermutlich nichts wahres, gutes und schönes erkennen, aber vielleicht spuren von echtem und aufrichtigem.

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abends las ich in einem erzählungsband von wolfgang hilbig. schon bald hörte ich nicht mehr die zeilen des buches, sondern meine eigenen. ich setzte mich hin und schrieb einiges davon nieder, wurde aber von bereits vorhandenen textblöcken abgelenkt. das schwierige liegt darin, die richtige lektüre zu finden, die zur befindlichkeit der stunde passt und zum schreiben anstiftet. ich verbringen einen großteil meiner zeit mit der suche nach geeigneter lektüre. aber vermutlich kann mir, in dieser hinsicht wenigstens, tatsächlich niemand helfen, so dass die suche nach der impuls-lektüre zum schreibprozess geradezu gezwungenermaßen gehört.

ein interview mit alexander kluge, in dem es unter anderem heißt: (…) diese ganzen fähigkeiten, die so alt sind, die 550 millionen jahre alt sind, die tragen wir mit uns und darin liegt die hoffnung auf auswege und die andere seite ist, dass wir in unserem 21. jahrhundert nicht eine praxis in der politik, in der wirtschaft leben, die diesen schätzen, diesem reichtum an vielfalt und eigenschaften entspricht. (…) man braucht landkarten, man braucht kartografierung für die navigation des lebensschiffes, man braucht orientierung: wo gehen die sterne auf, wo geht die sonne auf? die ortskunde der gefühle, die ortskunde der zeiten ist ein thema, das mich sehr beschäftigt. das ist einerseits einfach, wie hier auf seite eins [tür an tür mit einem andern leben, frankfurt am main 2006] sehen sie das bild eines sechsjährigen, das bin ich. eine geschichte, die sehr kurz ist, heißt: der sechsjährige in mir und der gestirnte himmel über mir. das ist die einfache version. letztlich fallen wir immer wieder auf unsere eigene erfahrung zurück. und gleichzeitig sind wir gut beraten, wenn wir so viel wie möglich unsere sonden aussenden, dass wir von der wirklichkeit schneller etwas erfassen als diese wirklichkeit zuschlägt. (…) warum ich suche in geschichten zu erklären, wo sucht man das böse? denn dieses böse ist nichts stabiles, das ist nichts, was wir nicht mit unseren mitteln bekämpfen können. und wenn wir das vertrauen, das selbstbewusstsein uns bewahren, deswegen erzähle ich immer wieder geschichten, mit welchen schätzen wir menschen ausgestattet sind aufgrund der vorgeschichte, und dass es immer ausnahmen vom unglück gibt, das erzähle ich, weil ich selbstbewusstsein gut finde, und dass man einfach an das böse dahingehend nicht glaubt, dass man alle organisationen des bösen bekämpfen kann. das ist die grundmetapher aller meiner geschichten. (…) auschwitz kann in dem moment, in dem es geschieht, nicht leicht verhindert werden, dass etwa hunderttausend mann dorthin ziehen und die gefangenen befreien, das ist sehr unwahrscheinlich und unrealistisch. aber 1928 ist noch alles möglich und eine versammlung von achthundertausend lehrern, die sich zum ziel nehmen, es soll kein dreiunddreißig geben und wir wollen keinen krieg, (…) die kann eine gesellschaft verändern. genauso können sie 2006 aufpassen, im sinne unserer kinder (…), dass die nicht 2040 in einen krieg usa-china rennen. dazu gehört eine ziemlich genaue kenntnis der gesellschaftlichen verhältnisse, genaue kenntnis der gefühle. (…) der mensch ist gesellig (…) woran ich tief glaube, dass mehrere menschen, vor allen dingen solche, die sich mögen, unmögliches machen können. (…) die meisten menschen, die links orientiert sind, sprechen von utopie, aber das wort heterotopie ist viel besser, das heißt, dicht neben der wirklichkeit, in der wir leben, gibt es immer eine zweite und diese möglichkeitsform (…) ist genauso real, wie das, was ist. eins ist mir wichtig: dass die wirklichkeit von sich behauptet, sie sei wirklich, ist eine ideologie. das ist eine gemachte sache, das ist ein kokon, den wir uns gemeinsam zurechtmachen, um es auszuhalten. aber die wirklichkeit ist reicher, da gibt es neben der wirklichkeit noch zwei, drei, vier, fünf, sechs weitere. diese ausnahmen in der wirklichkeit kriegen sie nur heraus, wenn sie schärfer beobachten, (…) wenn sie in die poren der wirklichen verhältnisse hineinblicken. wenn sie dann sehen, wie etwas produziert ist, gibt es immer diese auswege. (…) – insofern ist die „lücke, die der teufel lässt“ (frankfurt am main, 2003) der punkt, an dem man einhaken kann. es geht also darum, diese lücken zu erkunden, um es mit einer kleinen drehung hier oder da zum besseren zu wenden. — wenn man so will, treibt mich die suche nach diesen möglichkeitsformen seit langer zeit um, expeditionen, sozusagen, im garten der sich verzweigenden pfade, um mit borges zu reden. (vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=I78k0cQYw_8, letzter zugriff: 04.08.09.)

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ich begebe mich vormittags in die bücherstube und will endlich die juli-aufzeichnungen abschließen. aber ich verheddere mich im text und finde kein ende. dann fällt mir coetzees erzählung über die rechte der tiere ein, ich suche den band heraus (…) – und lese mich fest. letzten endes verbringe ich den ganzen tag an dem schreibtisch dort, lese, schreibe, denke nach. ich komme zwar zu keinem ende, aber es macht spaß. abends gewittert es stark, der regen prasselt aufs dach, und ich sitze im schein einer lampe und lese. ich wünschte, meine tage würden alles so vergehen und ich könnte à la longue auf diese weise ein paar abgeschlossene texte produzieren. (…) – während des aufenthaltes im gebirge konnte ich kaum etwas von dem erledigen, was ich wollte. gewiss, ich besuchte die annenkirche und betrachtete den bergaltar, fuhr nach böhmen und ein wenig in der gegend herum, aber es hätte von allem mehr sein können. (…) es gibt so viel zu tun, ich bräuchte mich bloß hinsetzen und beginnen, aber ich fürchte mich vor den konsequenzen meines handelns, ich fürchte, ich könnte etwas übersehen und einen (gravierenden) fehler machen, so dass ich es vorziehe, lieber dazusitzen und gar nichts zu tun. mir sind die zusammenhänge alle klar, die selbst-verkopplung, das fehlende ur- und grundvertrauen (was hans küng als glauben beschreibt), aber man kann sich ja nicht einfach entschließen: ich fange einfach an, ich entkopple mich, ich pfeife auf meine sorgen, nöte und ängste, ich habe ein grundvertrauen, dass ich gerechtfertigt bin, auch wenn alle welt sagt: das ist aber doof. ich mache erst einmal weiter. so einfach geht das nicht: er stand auf, setzte sich an seinen schreibtisch und begann zu schreiben, von morgens bis abends, er hörte nie mehr auf – und wenn er nicht gestorben ist, dann schreibt er noch heute. das ist märchen, wirklichkeits-verweigerung. dabei weiß ich ja, wie wohl ich mich fühle, wenn ich tätig sein kann, wenn aufgaben erledigt werden. es ist ein kreuz.

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die meisten gedichte sind lediglich gedicht-entwürfe; versuche des autors hin auf das gelungene gedicht, das er im verborgenen ahnt. jenem gedicht bemüht er sich mit jedem einzelnen entwurf in inhalt und lautbild anzunähern, mal ist es länger, mal kürzer, mal streng, mal offen, mal handelt es von einem baum, mal von einer frau, mal von einem gedanken. vielleicht ist dieses gedicht auch gar nicht so statisch, wartet gar nicht im halbdunkel darauf gefunden zu werden, sondern verändert sich entsprechend der befindlichkeiten und lebens-umstände des autors, streunt im dämmer umher, so dass er suchen und versuchen kann, so viel er will, sein leben lang – ihm werden allen- und bestenfalls ein paar entwürfe gelingen, die besser überzeugen als die meisten anderern, die er über die jahre angefertigt hat. man wirft lebenslang ein netz ins finstere und zieht es zumeist leer wieder ein. wie ein einzelner fischer, der tag für tag hinausfährt und nichts oder kaum etwas fängt, weil die see hoffnungslos überfischt ist. möglicherweise ist die welt insofern über-textet und es käme darauf an, sich selbst zu mäßigen, abzuwarten und lediglich die guten fänge zu markte zu tragen (be patient with your live), andererseits bleiben fische genau wie gedicht-entwürfe nur kurze zeit frisch. ein lyrikband ist kein abgeschlossenes werk, sondern eher eine art brief, ein verständigungsmittel mit dem leser, das von einer impliziten frage getragen wird: was hältst du davon? lyrik kann man als einen versuch verstehen, die welt zu begreifen – der im dialog sozusagen prozesshaft und asymptotisch stattfindet. eine physikalische formel erscheint mir weniger als ein gegenstück zu einem gedicht, sondern vielmehr als eine andere form, die mit anderen zeichen arbeitet: e=mc², die erkenntnis also, dass masse und energie gleich sind, äquivalent, wie der phyiker wohl sagt, ist meines erachtens vor allem andern ein romantischer gedanke. die form, in welcher er ausgedrückt ist, besticht gleichermaßen durch kühnheit, eleganz und prägnanz – was will ein gedicht mehr, ein gelungener gedicht-entwurf?

ich kann bis heute mit keinem menschen ein ernsthaftes gespräch über die probleme führen, die mit meiner beschäftigung verbunden sind: was ist ein gedicht, sollte diese zeile anders klingen, kann man diese figur ernstnehmen, lässt sich diese argumentation nachvollziehen? von existentiellen problemen (des geworfen-seins in die welt) – im wahrsten sinne des wortes: ganz zu schweigen. insofern muss ich geradezu alles, was ich tue als probe, als versuch, als so tun als ob, nicht ernstgemeint und voll-gültig wahrnehmen. wo immer ansätze zu solchen gesprächen erscheinen, bin ich elektrisiert und ganz begeistert, aber sie bleiben stecken und verlieren sich, versanden im nirgendwo einer kahlen, dürren ebene. wenn ich doch nur einmal ein gespräch über lyrik, über prosa, über essays führen könnte, ein ernsthaftes über den schreibprozess und einzelne fragen der konkreten gestaltung.

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abends eine dokumentationsreihe über die industrialisierte landwirtschaft der gegenwart. was wir zu kennen meinen, ist nie die gegenwart, sondern bestenfalls die jüngere vergangenheit. kücken werden mit einem staubsauger vom boden einer gigantischen halle gesogen und auf förderbänder verfrachtet, vollautomatisiert werden sie in käfig-kartons verstaut und verschickt. ein narr nicht unbedingt, der dabei parallelen zieht zum eigenen leben. wie betulich und idyllisch ist dagegen das bild des hamsters in seinem rad. – hühner werden global vermarktet: die brust kommt nach europa, beine und flügel kommen nach afrika (wo die lokalen geflügelbauern zugrunde gehen, weil sie zu teuer produzieren), innereien nach thailand und mexiko, selbst die verschickung von kämmen und krallen nach china ist preisgünstiger als die entsorgung vor ort in europa. vergeudung von energie zugunsten der maximierung des profits. zur anreicherung von kohlendioxid in der atmosphäre kommt die anhäufung von schuld im andern himmel. man neigt bei solchen beobachtungen gemeinhin zu rigorosem pathos, weil einem das maß für eine vernünftige beurteilung fehlt. – eine niederländerin wird im supermarkt zu ihrem geflügelbrust-kauf berfragt, nein, ein ganzes huhn zu kaufen und zu kochen käme ihr nicht in den sinn, das sei doch „sehr eklig“. der bezug ist längst verloren gegangen: das leiden des einzelnen tieres, erst recht wenn es ein geradezu vermenschlichtes haus-tier ist, geht nahe, das qualvolle leben und sterben der hekatomben tiere, aus denen unsere lebensmittel gewonnen werden, kennt keiner. ich kann mich noch daran erinnern, wie schafe, schweine und kälber geschlachtet wurden, ich konnte das nie beobachten und verkroch mich immer. ein haus voll mord, kam mir in den sinn, den sinn eines womöglich allzu feinfühligen knaben; schon mir fehlt der bezug zum fleisch, weil ich das indivuelle schlachten nicht ertragen, geschweige denn selber ausführen kann. ich habe entnommene schweinelebern, gewaschene schafsdärme und gespaltene kälberleiber gesehen. die frage steht im raum: bin ich schon zu sensibel und mit dieser sensibilität kind meiner zeit? auf der einen seite das fleisch fertig verpackt aus dem supermarkt beziehen und nicht weiter danach fragen, sich auf der andern seite im urlaub an der weidenden kuh auf dem land erfreuen und über die industrialisierte landwirtschaft beschweren. kann man fleisch essen und sich trotzdem gedanken über die moral von landwirtschaft und lebensmittelherstellung machen? kann man eine bratwurst essen und sich über das leiden der tiere empören? unser kaufverhalten ist eine dreifache verletzung und wir bemerken keine einzige davon, weder was wir den tieren (und pflanzen …, der schöpfung, wenn man so ein wort gelegentlich in den mund nehmen möchte) antun, noch den menschen, die auf gedeih und verderb in diesem produktions-prozess vom erntehelfer im andalusischen mar del plastico und dem schlachtereigehilfen bis hin zur verkäuferin im discounter eingebunden sind, noch uns selbst, die wir uns lebensmittel, die auf diese weise produziert wurden und auf unsern tisch gelangten, einverleiben. es hilft nichts, auf fleisch zu verzichten oder nur noch produkte aus der näheren umgebung zu beziehen, man würde zum überheblichen pharisäer; es hilft nichts, in einen aufklärerischen furor zu geraten und die anderen aus ihrer verschuldeten oder unverschuldeten unwissenheit befreien zu wollen, denn man kann niemals alle überzeugen und muss daher aufgeben und das abweichende verhalten aushalten – oder gewalt anwenden. „ich möchte eine art finden, mit meinen mitmenschen zu reden, die eher ruhig als erregt ist, eher philosophisch als polemisch, die eher aufklärt, als uns zu spalten sucht in die gerechten und die sünder, die geretteten und die verdammten, die schafe und die böcke„, lässt j. m. coetzee seine protagonistin elisabeth costello in einem vortrag zum leben und sterben der nutztiere sagen. später wird sie von einem zuhörer gefragt: „für mich ist nicht deutlich geworden, (…) worauf sie eigentlich hinauswollen. meinen sie, dass wir die massentierhaltung einstellen sollen? meinen sie, dass wir die tiere humaner behandeln sollen, dass wir sie humaner töten sollen? (…)“ und sie hat keine schlüssige antwort darauf (j.m. coetzee, elisabeth costello. acht lehrstücke, frankfurt am main 2004, s. 86, 105). ich habe auch keine, mir ist selbst nicht deutlich geworden, was ich genau sagen möchte. – wir haben den bezug verloren, wir wollen am liebsten sein wie die pflanzen und uns aus leblosem material ernähren. das verdrängen von krankheit und tod hat die gleiche ursache wie unser zwiespältiges verhältnis zur ernährung: wir wollen nicht wahrhaben, dass wir wie alle anderen lebenden systeme in die bedingungen der biologie eingepasst sind. wenn man über den potsdamer platz eilt, von einem meeting zum nächsten und dabei kurz mit der anderen seite der erde telefoniert, kann man leicht darauf kommen, sich daraus gelöst zu haben. aber es holt uns immer wieder ein. wir mögen uns gedanken machen können (aber wer tut das schon …), das verleiht uns etwas besonderes, aber es befreit uns nicht.

im rheinischen merkur erregt sich andreas öhler über den fehlenden ernst in der jüngeren deutschen literatur: „(…) es grenzt zum beispiel ans obszöne, wenn sich eine junge autorin, wie vor Jahren beim klagenfurter ingeborg-bachmann-wettbewerb geschehen, schnell mal in die leidenspsyche eines guantánamo-häftlings einfühlt, selbst aber geborgen in der heimischen schreibstube womöglich ihr sattes preisgeld oder das literaturstipendium verknuspert. (…)“ er rät mit albert camus: „jeder künstler ist heutzutage auf die galeere seiner zeit verfrachtet. wir befinden uns auf hoher see. der künstler muss sich wie die anderen ans ruder setzen, wenn möglich, ohne über bord zu gehen, das heißt, er muss fortfahren, zu leben und zu schaffen.“ – von diesen worten fühle ich mich eigentlich nicht sehr herausgefordert, denn zum einen fühle ich mich nicht als literat, ganz im gegenteil, ich fühle mich eher gar nicht. bei coetzee heißt es: „voller leben zu sein heißt, als körper mit seele zu leben. ein name für die erfahrung des vollen lebens ist freude.“ deshalb heißt es auch zutreffend „freude schöner götterfunken“ und nicht „freiheit“ wie zum jahreswechsel 1989 in berlin gesungen wurde … mir fehlt diese erfahrung der freude. – zum andern bin ich mir unsicher, ob meine verzweiflung existentiellen charakter hat – oder eher eine wohlstands- und schönwetterverzweiflung ist, denn was weiß ich von den nöten eines arbeitslosen mannes, der eine familie zu ernähren hat, was von denen einer alleinerziehenden frau, die jede schikane erduldet, um nur die anstellung nicht zu verlieren, was von denen eines chinesischen wanderarbeiters, eines anschlagsopfers in bagdad, eines flüchtlings aus darfur, … ich kann mich nicht hineinversetzen. was weiß ich von der trostlosigkeit eines lebens in leipzig-grünau oder in neundorf, reitzenhain, carlsfeld … mir schien das verfahren, sich durch recherche („lesen sie autobiografien!“) fremden wahrnehmungsmustern nicht nur anzunähern, sondern sich in sie einzufühlen, immer sehr problematisch. mag sein, dass mich geschichtswissenschaftliche und ethnologische verfahrensweisen davon abhalten, aber letzten endes gilt reinhart kosellecks diktum, primärerfahrungen ließen sich nicht übertragen, für die literatur ebenso. es bleiben immer unsere eigenen worte, gedanken und gefühle, aber wenn wir in rollen und figuren schlüpfen und vorgeben, authentisch zu sein, belügen wir uns – und kommen keinen schritt weiter. wir können unsere eigenen befindlichkeiten, sorgen, existentiellen nöte nicht vermitteln, wie wollen und sollen wir da stellvertretend fremde ängste (und fremdes glück) vermitteln? es geht dabei nicht um einen simplen realismus, es geht um … wahrhaftigkeit, denn soweit verständigung überhaupt möglich ist, kann sie nur darauf gründen. – mit jedem tag und jeder stunde meiner wohlstandsexistenz verstricke ich mich nur tiefer und tiefer, häufe ich nur immer mehr … schuld auf. wie ein soldat, der nur noch mittrottet, aber zu keinem eigenen schritt mehr in der lage ist, kann ich nicht desertieren. wohin sollte ich auch gehen. meine gedanken drehen sich im kreise und auch auf der welt kann ich mich nur im kreise drehen, es gibt keinen ort, wohin ich fliehen, und nichts, scheint mir, dass ich tun könnte. ich kann mich ablenken, die nöte verdrängen, dieses und jenes tun, aber das wäre keine lösung. deshalb kann ich mich vermutlich auch nicht mit irgendeiner aufgabe abfinden. alles, was ich tun könnte, ich hätte ja einiges potential, wird mir immer wieder eingeredet, vielleicht stimmt das sogar – alles, was ich tun könnte, erscheint mir zuletzt doch lächerlich. die welt gerät in die brüche, die große wie meine kleine – und ich muss daneben sitzen und kann nichts tun, außer zuzusehen und zu verzweifeln. ich muss keinen hunger leiden, wenn ich krank werde, ist ein arzt da, aber das macht es womöglich nur schlimmer: ich kann mir nicht einmal selber helfen, ich beute die anderen mehr aus, als ich ihnen zum vorwurf mache. wenn die antipoden nicht für einen hungerlohn arbeiteten und meine nachbarn sich nicht tag für tag in die mühle des täglichen brotes begäben – was finge ich dann an? ich habe gut reden. (andreas öhler, die wollen nur spielen, in: rheinischer merkur 31 vom 30.07.09, vgl.: http://www.merkur.de/2009_31_Die_wollen_nur_sp.36111.0.html?&no_cache=1, letzer zugriff: 04.08.09; coetzee, costello, 100.)

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