vor einiger zeit nahm ich zwei ökonomie-lehrbücher zur hand und las ein wenig darin herum. ich unternahm den versuch, mich mithilfe einer fachmethodik und eines lehrbuchs in ein weiteres fach zu vertiefen, wie es jener hamburger ur- und frühgeschichtler empfohlen hatte. natürlich glückte das unterfangen nicht, weil mir einstweilen schlicht die zeit fehlt. ich hetze von projekt zu projekt wie ein potenzierter esel buridans, der an einem üppigen buffet verhungert, weil er sich nicht für eine speise entscheiden kann. jedenfalls: ich stolperte über die behauptung, die volkswirtschaftslehre stünde zwischen natur- und sozialwissenschaften. das erscheint mir nach wie vor sehr gewagt und wenig plausibel. christian geyer stellte jüngst fest: „tatsächlich ist es das naturgesetzliche gebaren dieser wissenschaft, das es nachhaltig zu erschüttern gilt.“ (null wachstum. rot stellt sich tot: wie die linke ihre chance vertut, in: faz vom 08.04.09, s. 29.)

über claudio magris, der dieser tage 70 geworden ist, heißt es mit montaigne: „und ich streife umher um des umherstreifens willen“ und mit leopardi: „… und so / ertrinkt in unermesslichkeit mein geist: / und scheitern ist mir süß in diesem meer.“ der triester literat und literaturwissenschaftler, der sich mit dem alten österreich (der habsburgische mythos in der modernen österreichischen literatur, salzburg 1966) und (ost-) mitteleuropa (donau. biographie eines flusses, münchen/wien 1988) beschäftigte, wird selbst zitiert mit einem meditativen satz über das vielleicht prägendste phänomen (ost-) mitteleuropas – die „grenze“: „vielleicht besteht die einzige möglichkeit, die tödliche macht der grenze zu neutralisieren, darin, sich immer auch auf der anderen seite zu fühlen, auch für sie partei zu ergreifen.“ (vgl. volker breidecker: das andere meer. claudio magris zum siebzigsten geburtstag, in: sz vom 09.04.09, s. 11.) – triest, die heimat von magris, die er als ein „literarische hauptstadt in mitteleuropa“ (münchen/wien 1984) bezeichnet, besuchte ich im sommer 1997: wir waren von villach in kärnten aus an die adria gefahren, die luft lag bleifarben und –schwer über der stadt, auf unsern häuptern, in unsern lungen. ich erinnere mich nur an meine atembeschwerden und einen verschleierten himmel, mehr blieb mir von triest nicht im kopf. aber dabei ist es ein wichtiges positionslicht zu bestimmung mitteleuropas: sie liegt an der nordspitze der adria (und, wenn man so willl, an einer südspitze mitteleuropas), sie war österreichs hafen zur welt; zugleich liegt sie gegenüber von venedig, das seinerseits wiederum ein gegenüber zu lübeck ist … zu triest fielen mir bislang nur tegetthoff-klasse und major von treskow aus dem mosaik ein. — wie schon gesagt: ich hechele dem feuilleton hinterher, es ist mein stichwortgeber – sollte mir das peinlich sein, sollte mir das zu denken geben?

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geträumt: ich stand am rande eines waldes. dort brach recht steil das gelände mehrere hundert meter tief in eine ebene. man konnte weit ins land blicken. der abhang war schnurgerade und wirkte glatt, es sah aus wie von menschenhand geformt, kleine felsbrocken, zwischen denen grasbüschel herausquollen. mir war klar, dass es sich dabei um die pultschollen-klippe des erzgebirges, das egertal und böhmen handelte. ich lief gefahr, den hang hinunterzustürzen, und hielt mich deshalb in einiger entfernung. ein paar mädchen, die um die 15 waren, strichen herum. ich wusste nicht, ob es tschechinnen oder deutsche schülerinnen auf klassenfahrt waren. eine verlassene gaststätte mit aussichtsturm lag an der klippe. plötzlich war eine der schülerinnen den abhang hinuntergestürzt: unfall, suizid, mord? so befand ich unversehens wieder einmal in einem kriminalfall.

wir wanderten zum sogenannten „zigeuner-felsen“, einer basaltformation im conduppelbach-tal. wir verliefen uns ein wenig, so dass wir durchs unterholz kriechen mussten, das durch die schneeschmelze sehr morastig gewoden war. der felsen, den wir nach einigen umwegen (1) erreichten, ist so hoch wie die fichten ringsum, so dass man ihn einerseits nicht von ferne her sieht, andererseits kann man den blick über den wipfeln schweifen lassen, wenn man den fels erklommen hat. an seinem oberlauf heißt der conduppelbach „rotes wässerle“, so zumindest meine erinnerung an einen heimatkundlich geführten ausflug vor über zwanzig jahren. das rot sei auf ein blutiges getümmel während des dreißigjährigen krieges zurückzuführen – oder erinnere ich mich an dieser stelle falsch und menge ein altes sagen-topos hinein? daraus ließe sich natürlich sehr einfach ein roter (!) faden spinnen hinsichtlich meines bezugs zum dreißigjährigen krieg, den man durchaus als angelpunkt der frühen neuzeit bezeichnen kann: hier finden die verwirrungen, die die reformation entfesselte, verfassungsrechtlich ein befriedigendes ende, so dass fortan die konfessionellen konflikte pazifiziert vor gericht ausgehandelt werden konnten; zugleich wurzelt hier das 18. jahrhundert mit seinem toleranzgedanken, seinen kabinettskriegen mit einem ganz spezifischen ius in bello, ja mit der aufklärung selbst, in einigen ihrer wesentlichen aspekte. – freilich: schicksal ist das nachträgliche gewebe aus zufällen und erfindungen, das einem leben sinn verleiht.

abends überlegte ich mir, parallel zu der studie zur rolle kursachsens beim westfälischen frieden eine art forschungs-tagebuch zu schreiben – und am ende als ergänzungsband zur monografie herauszugeben, ob es den herren in leipzig gefällt oder nicht: die dokumentation der irrtümer, fehlenschätzungen und zweifel. seht: ein nebel geht über die wiese – und ich koche auch nur mit wasser


(1) es hat sich bestätigt: umwege dienen der verbesserung der ortskenntnis. was dieser, auf den ersten blick paradoxe zusammenhang für die bewertung der erfahrung bedeutet, die oberflächlich als „scheitern“ bezeichnet wird, liegt nachgerade auf der hand.

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nachdem barack obama in prag mit magnetischen worten, wie man es gewohnt ist von ihm, erklärt hat, er strebe eine atomwaffen-freie welt an, wird einerseits die kraft dieser vision hervorgehoben, andererseits real-politisch vehement einspruch erhoben. in einer multipolaren welt wie dem 21. jahrhundert, das in seiner unübersichtlichkeit viel mehr dem vorvergangenen als dem vergangenen entspricht, sei eine vollständige abrüstung ungleich schwieriger als in der zeit der blockkonfrontation, also praktisch unmöglich. gehässig wird bemerkt, die parole laute nicht länger yes we can!, sondern nur noch we must insist! aber gibt es denn eine alternative als auf dieser abrüstung zu bestehen? machen wir uns nichts vor: es wird keine atomwaffen-freie welt geben, von den andern geißeln zu schweigen. wenn begriffe wie massen-gesellschaft oder massen-universität schon eine zu-mutung sind, die ent-mutigen, weil sie dem einzelnen nicht nur die würde ent-ziehen, sondern sie ihm von vorneherein gar nicht zu-gestehen, wenn dem so ist, dann handelt es sich bei dem wort massen-vernichtungs-waffe um dessen potenzierung ins absolutum von würdelosigkeit und menschenverachtung. man lasse sich das wort mal auf der zunge zergehen, schwenke es in den ganglien hin und her, befühle und bedenke es: massen-ver-nichtungs-waffe. man kann doch nicht zur tagesordnung übergehen: es gibt sie – so what? man muss darauf bestehen, darauf bestehen, die erde bewohnbar zu halten. denn andernfalls war alles vergebens. denn der sinn der geschichte ist die offenheit der zukunft. terrorismus und ideologischer fundamentalismus, ressourcen-vernichtung, klimawandel, massen-vernichtungswaffen, gentechnik, organisation von wirtschaft und gesellschaft. das sind keine pazifistischen phantastereien, das sind keine idealistischen idiosynkrasien, das ist ein teil der real-politik, denn wer sich nicht der schrecken und gefahren bewusst ist, die in der welt lauern, kann keine real-politik betreiben. (klingt zwar nach binsenweisheit, apodiktisch vom katheder herunterdoziert, ist aber so.) die lehren aus dem aufstieg des nationalsozialismus und aus dem niedergang der sowjetunion sind keine argumente gegen pazifistische grundeinstellung. (andererseits: das si vis pacem, para bellum ist weder ein blankoschein für eine endlose rüstungsspirale noch ausdruck einer verbohrten, engstirnigen weltsicht.) das problem liegt in der einmaligkeit von geschichte: weder kennt man das schlimmere, das verhütet wurde, noch das bessere, das man versäumt hat. wie sähe die welt aus, wenn die westmächte 1935 bei der wiedereinführung der allgemeinen wehrpflicht und der remilitarisierung (schon diese worte: remilitarisierung) der rheinzone, sich konsequent engagiert hätten? wäre die sowjetunion mit ihrem satellitensystem nicht auch zerbrochen, wenn es keine nato-nachrüstung gegeben hätte? solche fragen scheinen müßig, aber wenn man sie nicht stellt, erscheint die geschichte zwangs-läufig. zuletzt: eine reduzierung der atomwaffen auf null wird wohl nicht möglich sein, der geist ist einmal aus der flasche, aber zumindest eine deutliche reduzierung auf ein potential weit unterhalb der selbst-vernichtungsgrenze – darauf zu insistieren ist: vernünftig. — so betrachtet (ein erhard-eppler- oder protestantischer pastoren-satz fast): massen-vernichtung schließt selbst-vernichtung ein.

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über den satz milan kunderas, das leben als solches sei ein scheitern, der mir durchaus entgegenkommt, wollte ich eigentlich einige bemerkungen niederschreiben. in der art etwa, dass blütenträume so gut wie nie reifen und man mit dem nicht-ganz-gelingen, das man als scheitern bezeichnen kann, lernen muss zurechtzukommen. aber beim nochmaligen überdenken schien mir das vorhaben doch arg gewollt, einmal um text zu produzieren (zum scheitern fällt mir immer etwas ein), einmal um mich der angst zu entledigen, meine sätze seien nur phrasen, denn genau so charakterisiert der verfasser des beitrags zu kunderas achtzigstem geburtstag jenen satz: eine phrase. freilich: am karfreitag ließe sich trefflich über das leben als scheitern philosophieren. – der leipziger lyriker thomas kunst schreibt im nachwort seines jüngsten gedichtbandes: „die gesellschaftliche akzeptanz gegenüber lyrikern und lyrikerinnen mit einer abgeschlossenen wissenschaftlichen ausbildung ist wesentlich höher als gegenüber lyrikern und lyrikerinnen ohne diese bildungsnachweise. die zeit der autodidakten ist ein für alle mal vorbei. die geschichte des schwafelns hat längst begonnen. heere von akademisch aufgeblähten biographien stehen sich gegenüber.“ (hervorhebung vom autor; das ende der weinerlichen schrift, in: estemaga. gedichte, hörby 2008, s. 86f.) mir scheint zuweilen, dass ich zwischen allen stühle schwebe – oder mehr noch: hindurchfalle, phrasen dreschend, schwafelnd durchs raster falle ins nirgend-wo. – aber selbst-verständlich mache ich weiter, es gibt keine alternative mehr. zumal mir vielleicht die destillation der pechblende gelingt und ich ein quantum leuchtenden stoffes vorweisen kann. wer weiß. — es fragt sich folglich: soll ich dem besagten heer tatsächlich noch eine weitere akademisch aufgeblähte (aufgeblasene)  biografie hinzufügen? und noch grundsätzlicher: soll ich die masse kontingenter texte noch vergrößern? ich habe keine antwort, nur eine ausrede: man muss sich beschäftigen.

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gestern ein kleiner artikel über das archiv des ausstellungsmachers harald szeemann, der eine un-menge an zeitungsausschnitten in mappen, vor allem aber in hängeregistern aufbewahrte; das arbeitszimmer-archiv war in einer ehemaligen fabrik untergebracht. die haptische erfahrung von zetteln und papieren, die ein ganz anderes verhältnis zum inhalt erzeugt als ein bildschirm, der mit jedem beliebigen inhalt gefüllt werden kann; das verhältnis ist realer, individueller und einprägsamer. man assoziiert nicht linear, sondern netzwerkartig. das sollte seine entsprechung im ablage- und verweissystem finden. – wie stellt man verweise her? und noch wichtiger: wie überträgt man eine solche, netzwerkartige verweisstruktur in einen text? akademische graduierungsschriften sollen immer linear organisiert sein: einleitung mit fragestellung, durchführung, conclusio mit „thesenartiger zusammenfassung“. wie müsste die struktur einer postmodernen qualifikationsschrift aussehen? ein text in einer nicht-linearen struktur kann trotzdem folgerichtig aufgebaut, in „prononcierter, nüchterner wissenschaftsprosa“ verfasst, verständlich sein und nachvollziehbar solide ergebnisse liefern. – aber in leipzig ist so etwas natürlich ganz un-denkbar … (vgl. thomas steinfeld: der virtuose im hängeregister. wer siegt im medienvergleich? im archiv von harald szeemann, in: sz vom 08.04.09, s. 11.)

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ich saß in der deutschen bücherei, las und machte mir handschriftliche notizen: rosenlöchers wendetagebuch, kunerts poetikvorlesung von 1981, die ich als eine art taufspruch lese, ein paar verstreute seiten von nicholson baker.  – ich schaue mich auf dem tisch um und frage mich: wo soll ich nur zu lesen beginnen? vom schreiben ganz zu schweigen. erst einmal weitermachen, schritt für schritt, stück um stück.

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vor einiger zeit straffte ich am ende eines geselligen arbeits-abends meinen rücken, griff ans rever meines jacketts und stellte fest: man muss sich seine verrücktheiten eingestehen. ich war selber baß erstaunt, wie überzeugt ich das sagte, verkündete.

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es spricht mir aus der seele, was friedrich hebbel in seinem tagebuch zum traum-notieren bemerkte, die dem fühmann-buch vorangestellt wurde: wenn sich ein mensch entschließen könnte, alle seine träume, ohne unterschied, ohne rücksicht, mit treue und umständlichkeit und unter hinzufügung eines kommentars, der dasjenige umfasste, was er etwa selbst nach erinnerungen aus seinem leben und seiner lektüre an seinen träumen erklären könnte, niederzuschreiben, so würde er der menschheit ein großes geschenk machen. (der text ist franz fühmanns buch über seine träume als motto vorangestellt: unter den paranyas. traum-erzählungen und –notate, rostock 1988, s. 11.) was ist privatheit?, kann man fragen. was sagt ein traum aus? verbietet sich die veröffentlichung von träumen? dabei, ich gebe es unumwunden zu, lasse ich so vieles weg, glätte mancherlei. was ist ein tagebuch? jeder will doch in einer bestimmten weise erscheinen – und sei es vor sich selbst.

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was ist der unterschied zwischen „magischem denken“ und „wildem denken“? / ähnelt der modus cogitandi thoreaus in seiner abgeschiedenen hütte dem jenes indianers, der tausend jahre vorher dort unterm gestirnten himmel saß? – das sind freilich sämtlich bedenken-lose ein-fälle statt ernst-hafter fragen, aber immerhin ein-fälle, wenigstens ein-lassungen.

ich sah aus dem fenster des städtischen kaufhauses auf die baustelle der universität. dort werden die letzten pflastersteine verlegt und üppige haufen sandes sind aufgeschüttet. ich erinnerte mich an die sandhaufen meiner kindheit, die auf dem pflaster lagen, und aus denen ich versuchte, berglandschaften zu modellieren, mehr im geiste als mit der schaufel (1).  die poetik eines sandhaufens: im chinesischen setzt sich das zeichen für die unsterblichen (2) xian aus den zeichen mensch und berg, also bergmensch oder menschlicher berg; berge wie menschen, götter wie berge, meere und giganten. und alle knechte und alle freien verbargen sich in den klüften und felsen an den bergen und sprachen zu den bergen und felsen: fallt über uns und verbergt uns. (3)


(1)  auf dem sandhaufen muss eine schaufel liegen – zwingend.

(2) sie sind das metaphysische gegenstück zu göttern und ahnen: sie haben keinen festen wohn-ort, sie schweifen und streifen vielmehr umher; sie gehören nicht zu den fleißigen bürgern, sie sind die anarchisten, aussteiger, trinker, exzentriker, spaßmacher: jetzt wachen nur mehr mond und katz / die menschen alle schlafen schon / da trottet übern rathausplatz / bert brecht mit seinem lampion. – vgl. grundsätzlich dazu kristofer schipper: the taoist body, berkley 1982, s. 160-174 – ich lebe mein leben in wachsenden ringen / und halte’s fest mit aller kraft, die zu gebote / steht. und sollt ich ins un-endliche dringen / ist auch dafür platz in einer un-endlichen fuß-note … „vgl. grundsätzlich dazu“ – das ist (mehr oder weniger ansprechende) „nüchterne wissenschaftsprosa“ …

(3) engel und boten gottes, steht mir bei; heilige anna hilf: ich verheddere mich in meinen bezügen. – assoziationen sind wie dünen, jede lockt immer weiter zur nächsten, man gibt nicht auf, es sei denn durch erschöpfung. heilige anna, hilf. gute barbara, klöpple einen roten faden, damit ich aus dem labyrinthischen dickicht entkomme und nicht verende wie des cortes männer …

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vor einigen tagen ein gedicht von hendrik rost in der zeitung: zeitgeist // die mülltonne auf rissigem pflaster / im hof, // die nach oben offene mülltonne / auf rädern, // fast ein anblick, den ich mögen könnte, / wäre da nicht // der müll. (faz vom 26.03.09, s. 30.) – am 13. august vergangenen jahres streunte und streifte ich abends noch etwas durch plagwitz, auf der suche nach ein paar zeileneinfällen: wertstoffkreislauf // überquellende / mülltonnen zu fotografiern und / denken, damit ändere sich / etwas, was auch immer, / ist einfältig, denn / wer weiß, ob die mülltonne / nicht gefüllt ist bis über den rand / mit fotografien von mülltonnen, die / überquellen.

ich kehrte halb zwei in der nacht heim, hatte seit dem nachmittag nichts gegessen und nur etwas wein am abend getrunken. ich goss jasmintee auf, aß ein paar schnitten und las in dem gedichtband von helga novak. ich konzentrierte mich auf die zeilen, ich versenkte mich in sie und las sie so oft, bis ich einen sinn gefunden hatte: ich beruhigte mich vom tag, der voller gespräche war aber sonst leergeblieben war. kaum hatte ich drei gedichte gelesen, stellten sich sätze ein, die ich notierte, während ich einige tassen tee trank. der anfang ist ein satz, der plötzlich da ist wie die erste schwalbe: … und wer kennt schon den andern? – eine zeile macht noch kein gedicht, aber jedes gedicht beginnt mit einer ersten zeile. manche sätze erscheinen wie binsenweisheiten, aber zuletzt ist jede erkenntnis eine binsenweisheit (1), gleich wenn sie in the very beginning eine sensation war, ja geradezu eine verteufelte häresie, und ein ferner enkel mag sich fragen, warum so viel gewese gemacht worden ist einst um die tatsache, dass energie nur beschleunigte masse sei. – so sitze ich und lausche in die welt.


(1) immer dieser furor, dieses leidenschaftliche naserümpfen gegen binsenweisheiten. die welt ist voller binsenweisheiten, jede erkenntnis ist eine binsenweisheit – der clou liegt darin, sie ungewöhnlich miteinander zu verknüpfen.

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