unlängst erfuhr ich, lila sei die trend-farbe des letzten sommers gewesen – und plötzlich beobachte ich überall menschen in lila kleidungsstücken. ohne die information keine beobachtung, die sie bestätigt – ein zirkel. – f.r. erzählte, vor einigen jahren sei ein wiener journalist zum himmelfahrtstag nach cottbus gekommen, immer auf der suche nach der rechtsradikalen szene – und in der tat habe er auch alles bestätigt gefunden, was das klischee fordere: leere, trostlose plattenbausiedlungen, betrunkene männer, die parolen blubberten, furchtsame ausländer … – und mit evelyn finger und ihrem artikel verhält es sich ebenso. zweifelsohne ist das ein problem der hermeneutik. man wird die eigene voreingenommenheit nie abstreifen können, weil man niemals aus dem zimmer treten kann, in welchem man sitzt. dieser umstand ist aber keine berechtigung, die eigene auffassung nicht zu hinterfragen. damit sei kein relativismus um jeden preis gefordert, aber redlichkeit. gedachten propheten und gedachten journalisten mit nachdruck ins stammbuch geschrieben.

ein pärchen auf dem institutsflur: sie fiel ihm um den hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. den andern gar nicht mehr loslassen wollen, festhalten. … will tiefe, tiefe ewigkeit. – wie schaut man, ohne zu schauen? wie staunt man unbeobachtet?

vor dem städtischen kaufhaus drei passanten, die sich das standbild kaiser maximilians ansahen. ich trat auf sie zu und zwang ihnen einen kurzvortrag auf: messeprivileg, gewandhaus, mustermesse. – liegt vermutlich am fehlenden schlaf, da verliert man zuweilen die objektivität in der beurteilung des eigenen handelns – und nachher ist’s einem peinlich. – ich muss darauf achtgeben, dass ich mich nicht zu einem schwätzer entwickle …

abends kam ich noch einmal ins institut, ich las auf einem plakat xula und formulierte so vor mich hin: tchula, tchile, tchocolata, tchetchentchochau, tchemnitch, tchetchien … – ich werde verrückt.

noch einmal: es lässt mich nicht los, es erregt mich weiterhin. wem das herz voll ist, dem geht der mund über. gewiss, man sollte am besten dazu schweigen. das beispiel des michael kohlhaas müsste genügen. aber es geht schlichtweg nicht an, über die universität einen kübel jauche auszugießen und anschließend mit dem zeigefinger auf sie zu deuten: dort stinkt’s. wer keine ahnung hat, sollte seine meinung für sich behalten. was man den studierenden vorwirft, trifft auch zu großen teilen auf die „leipziger bürger“ zu, die sich gezwungen fühlen, an der debatte teilzunehmen. fragt sich nur: von wem? reden vielleicht in gesetzteren worten, aber es bleibt doch vielfach un- oder halbwissen, wenn nicht gar unsinn. und da soll man an sich halten. studierende – jetzt gebrauche ich schon die stura-sprachregelung, soweit ist es schon mit mir gekommen … — da wird einem abgesprochen mitzusprechen, weil man allenfalls neu- oder zwischenbürger sei – aber wenn man die restriktive einwanderungspolitik des rates erwähnt, etwa im umgang mit zuwanderern reformierten glaubens, kann man auch mit einer wand oder einer schreibtischlampe sprechen. überhaupt kann man in der debatte mit einer wand oder eine schreibtischlampe sprechen, es gibt keinen unterschied: ihr herz schließen sie zu, mit ihrem mund reden sie stolz. — erst jüngst am samstag fragte ich mich: wie lang braucht man, um die großartige und kühne idee der universität zu erahnen, zu erkennen und, ein weiterer schritt, zu begreifen? man springt hinein ins studentenleben, mit achtzehn, zwanzig jahren, man wird halb gezwungen: ausbildung! raum zur klärung von selbstverständnis und zur selbstverortung gibt es nicht. die notwendigkeit zur bildung unter der prämisse theoria cum praxi (leibniz) stelle ich nicht in abrede. dieses thema ließe sich weiter ausführen, steht aber hier nicht im mittelpunkt. die universität muss sich vielmehr darüber klar werden, das ist eine unerlässliche bedingung für ihr weiteres gedeihen, was für ein phantastischer, außergewöhnlicher, atemberaubender ort sie ist, sie sein kann. sapere aude. das muss sie ihren besuchern vermitteln, vor allem andern, vor allen fähigkeiten und fertigkeiten. das ist kein ein bonus, es ist ihre basis. universität ist kein physischer ort, universität ist kein seminar und keine vorlesung, das alles sind mittel für die erfahrung, durch denken neue zusammenhänge zu erkennen, sie mit andern zu diskutieren und dadurch immer weiter zu gelangen, plus ultra. kostbare, seltene stunden, aber sie sind universität. wer dies einmal erkannt, erlebt, erfahren hat, um den braucht sich niemand zu sorgen.

polemik ist wichtig, sagt er, aber wie sehr er damit menschen guten willens verletzt, scheint unerheblich. (dabei nehme ich für mich unverfroren einmal in anspruch, durchaus guten willens zu sein …) ich zähle ohnehin nicht, ich war nicht dabei, ich bin zu jung und habe keine meinung, wenigstens keine begründete, die stand hält. mit dem panzer durch mein seelengärtlein zu fahren, ist ein verzeihlicher kollateralschaden. panzer vor, panzer vor; noch einmal stürmt, noch einmal – gegen die glasstahlsteinwand. wie schon gesagt: wie will man auf polemik anders reagieren? ich bestreite niemandem, der die sprengung st. paulis ohnmächtig mitansehen musste, die berechtigung, seine geschichte zu erzählen und sich einzumischen. aber ich halte den kompromiss, wie er nun architektur geworden ist, für eine gelungene synthese, in der aus aufrichtigem erinnern stärke und selbstvertrauen entspringen kann zu einem aufbruch in das neue jahrhundert. -– meinungslosigkeit, da möchte man mit yeats antworten, aber man schüttet lieber kein öl ins feuer. — warum rege ich mich darüber eigentlich so auf? soll doch, wer will gegen wände rennen. immer stürmt, immer stürmt, my dear friends. ich stelle mich derweil in die ecke, wohin ich der meinung manches eiferes nach offensichtlich ohnehin gehöre, zücke stift und block und notiere.

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es ist unglaublich schwer, erfordert starken willen und starkes selbstvertrauen, in einer polemisch aufgeladenen menge selber unpolemisch zu bleiben. wie soll man auf völlig unsachliche, verhöhnende, verletzende zwischenrufe anders reagieren. wer ein so starkes fell hat, ist unempfindlich gegen jede kritik – und darum soll es ja gerade nicht zu tun sein.

hüte dich, dass du dich nicht setzest zu einem, der über jemanden schlecht redet, und antworte gar nicht auf seine rede! denn der mensch, der seinen nächsten verleumdet, er ist wie ein mann, dessen schwert gezückt ist, wobei er gegen das recht gottes und sein gesetz kämpft, denn er hat das verleumdet, was gott mit seinen händen erschaffen hat. wahrlich, kennte der mensch die güter, die vor ihm verborgen sind, er brächte nicht zwei worte heraus bis zum abend. wenn wir einen sehen, der einem menschen übel nachredet, so lasst uns ihn fliehen wie jemand, der auf der flucht vor einer schlange ist. (aus einer abschrift auf einer tonscherbe, dem ägyptischen abt theodoros, 4. jhd. n. chr., zugeschrieben.) – dem kann man nichts hinzufügen, und doch ist das herz noch so voll.

es ist kein dialog, wenn man dem partner mit überheblichkeit begegnet. das ist etwa dann der fall, wenn man ihm aufgrund seines alters abspricht, eine eigene meinung zu besitzen, weil er noch nicht genügend erfahrung und lebenseinsicht gewonnen habe, um eine eigene meinung entwickeln zu können. der vorwurf zu jung zu sein („sie waren nicht dabei, sie können daher nicht urteilen.“) ist genausowenig ein argument wie der gegenteilige vorwurf („sie haben doch keine ahnung, wie es heute wirklich aussieht.“ oder: „ach, großvater, hör doch auf mit den alten geschichten, die interessieren niemanden.“). ich stelle nicht in abrede, dass man mit anfang zwanzig eine andere einstellung zur welt und nicht zuletzt zu sich selbst hat, als mit anfang dreißig, vierzig, fünfzig … aber eine alte auffassung hält den menschen von zwanzig jahren für reif genug, ihn herr seiner entscheidungen sein zu lassen. wer das in abrede stellt, muss sich fragen lassen, warum so junge, unerfahrene menschen dann eigentlich noch zu wählen berechtigt sind. ein alters-, bildungs- und wertezensus ist da nicht mehr weit und es lassen sich sehr leicht gerontokratische dystopien entwerfen.

wenn in leipzig an einem herausgehobenen ort, etwa auf dem wilhelm-leuschner-platz, wo ehedem die markthallen standen, eine moschee in herausgehobener architektur gebaut werden sollte, sind doch wohl eine ganze menge leute, die heute für die freiheit des glaubens und seiner präsenz durch architektur im öffentlichen raum schreien, auf den barrikaden mit dem molotowcocktail in der hand.

und immer so weiter, man schüttelt den kopf und staunt und könnte so viele worte über die arroganz und anmaßung, über dieses philistertum, über diese verlogenheit verlieren. dann treten noch altachtundsechziger auf und behaupten mit ihren vulgärdemokratischen vorstellungen die deutungshoheit. nicht nur ihre väter und großväter habe keine ahnung, auch die kinder und enkel, die einen verdorben durch den nationalsozialismus, die anderen durch die wohlstandsgesellschaft. es ist ungeheuerlich. da wird über werte schwadroniert, aber respekt für ämter und eine achtung vor institutionen – pustekuchen. allenfalls, wo es die eigenen institutionen und ämter sind. ungeheuerlich, diese autoritäre auffassung von antiautoritärem verhalten. schuhe ausziehen und werfen – aber dann heißt’s wieder, man gebrauche gewalt und beweise damit die unterlegenheit der eigenen position, den eigenen irrtum. man könnte aus wut gegen die wand laufen und ungeheuerlich rufen, immer wieder ungeheuerlich. man möchte schreien ergriffen von einem zorn, der sich nicht mehr in sprache fassen lässt.

apropos moscheen: hans-ulrich wehler gilt für gewöhnlich als ein lauterer, vernünftiger historiker. was er etwa zum thema nation und nationalismus schreibt, muss erst einmal verinnerlicht werden. damit wäre schon eine ganze menge gewonnen. aber sein artikel zum beitritt der türkei zur europäischen union verursacht nur kopfschütteln. man kann das pamphlet auch streichen und durch den satz ergänzen: ich habe angst, von 100 millionen türken majorisiert zu werden. auch da ließe sich ergänzen: von den 100 millionen ungebildeten majorisiert zu werden. da kann man sich nämlich die ganze reihe von konstruierten und herbeigezogenen argumenten sparen. ich muss bekennen: ja, auch ich hege unbehagen angesichts dieser beiden entwicklungen. aber ich sehe keine alternative. es muss darum gehen, den annäherungskurs zu steuern. – grundsätzlich: (1) ich halte einen beitritt der türkei mit ihren gegenwärtigen gesellschaftlichen bedingungen in den nächsten 25 jahren für illusorisch bzw. hochgefährlich. (2) wenn man sich die gesellschaft mancher jüngst beigetretener mitgliedsländer betrachtet, kann einem bange werden. (3) der verlust ganzer gesellschaftlicher gruppen hierzulande stimmt nicht weniger bedenklich. (4) aufklärung von andern fordern heißt zunächst die aufklärung bei sich selber, im eigenen land und im eigenen denken befördern. oder mit lukas 6,41 gesagt: was siehst du aber den splitter in deines bruders auge, und den balken in deinem eigenen auge nimmst du nicht wahr. (5) die gefahr eines „imperial overstretch“ der europäischen union ist seit ihrer enormen osterweiterung ständig gegeben. (6) gleichwohl ist es notwendig, sowohl die staaten des balkan als auch die ukraine und weißrussland, norwegen und die schweiz früher oder später in die union aufzunehmen. die beiden osteuroäischen ländern benötigen ohne zweifel einen langjährigen annäherungsprozess. die jüngsten entwicklungen in bulgarien machen offenkundig, dass die letzte erweiterung übers knie gebrochen wurde. (7) eine vertiefung der integration muss der erweiterung zwingend vorausgehen. (8) ein beitritt der türkei ist auf lange sicht (!) unumgänglich. 2014 wird er nicht erfolgen. die integration dieses staates und seiner gesellschaft stellt gewiss eine große herausforderung dar und ist mit hohen kosten verbunden. allein, die kosten wären ungleich höher, würde man die türkei nicht aufnehmen. (9) neben der vollmitgliedschaft müssen weitere formen der vertieften partnerschaft entwickelt werden, etwa für die staaten nordafrikas. das verhältnis zu russland wird immer ein besonderes sein (müssen). inwiefern die staaten des kaukassus, allen voran georgien und armenien – zugegeben: die christenländer; hat aserbaidschan interesse an einer mitgliedschaft bekundet? – aufgenommen werden sollten, ist gegenwärtig noch nicht abschließend zu bewerten. (10) es handelt sich weniger um eine frage der definition europas, denn europa ist immer ein konstrukt, es ist bestenfalls ein asiatischer subkontinent, ein zerböckeln und zerfasern asiens zum atlantik hin. es ist vielmehr eine frage des „imperial overstretch“, d. h. es kommt auf das verhältnis von integrationskosten und –nutzen an. im falle der türkei halte ich den nutzen für größer als die kosten, besonders im hinblick auf die alternativen (die keine sind); im falle des kaukassus wird man die weitere entwicklung abwarten müssen, innerhalb und außerhalb der union. die weiteren nachbarn russland, die maghreb-staaten und die staaten der levante werden wohl keine vollmitglieder werden können. aber: das ist keine frage der identität, es ist eine frage der funktionaliät. prinzipiell wäre das modell europäische union auf die ganze welt ausdehnbar, aber es lässt sich nur schwer vorstellen, wie das praktisch funktionieren soll; wohlgemerkt: es ist hier die rede von demokratien nach den kopenhagener kriterien: japan könnte mitglied werden, aber es ließe sich nicht praktizieren

auf dem weg aus der innenstadt zum institut sang ich so vor mich hin: ein feste burg ist unser gott.

als ich aus dem institutsgebäude trat, es war so gegen halb zwei uhr in der nacht, fand ich mein fahrrad auf lenker und sattel gestellt vor – ein anschlag?

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beim erwachen die erkenntnis: eine schildkröte müsste eigentlich panzerkröte heißen, denn sie trägt ja keinen schild, sondern eben einen panzer.

es gibt eine vorlesungsreihe, die sich mit zahlen und mathematik beschäftigt: kopf oder zahl. – als satyrspiel dazu könnte man sich vorstellen: zopf oder kahl. zur kulturgeschichte der frisur.

am meisten fürchte ich, was in mir bohrt. (alexander kluge: die lücke, die der teufel lässt. im umfeld des neuen jahrhunderts, frankfurt am main 2003, s. 370.)

– worauf vertrauen sie als mensch? – auf die zweite chance. – gibt es angriffe in der natur, menschliches versagen, komplotte der zivilisation, gegen welche die arbeitskraft und zusammenarbeit völlig und endgültig hilflos bleiben? (…) – die natur lässt immer eine lücke. (ebd., s. 420.)

arbeit ist aufmerksamkeit, zustandsveränderung. was ist liebe denn anderes? (ebd., s. 442.)

liebe ist der begriff davon, dass man das, was man vom andern will, ihm gerade dadurch selbst gibt. (ebd., s. 489.)

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im radio wird von einem deutschen singersongwriter gesagt, wie heute ein liedermacher genannt wird, er habe abseitige ideen. – wenn man etwas von meinen gedanken sagen kann, dann wohl, dass sie abseitig sind. denke ich doch … aus wie vielen gewöhnlichen gedanken entsteht ein abseitiger gedanke, wie viele abseitige gedanken sind notwendig? bringt die menge tatsächlich à la longue einen umschwung im gehalt? – alles pechblende.

du kannst einem känguruh das springen nicht verbieten – und eine schildkröte nicht dazu zwingen.

beruhigung und die klärung des kopfes durch längere lektüre von alexander kluge: die lücke, die der teufel lässt. nimm dir doch einmal zwei stunden für dich am wochenende, riet mir am freitag eine hübsche frau, und wer bin ich, dass ich die ratschläge einer hübschen frau in den wind schlüge? es wurden dann jedoch mehr als zwei stunden. – das problem ist auch nicht so sehr die beschäftigung mit all den dingen, ich hasse sie nicht, ganz im gegenteil, aber es ist doch ärgerlich, wenn man von unorientierten menschen ewig lange aufgehalten wird. man ist jedoch ein freundlicher, netter mensch und fährt niemandem übern mund – oder: was man an externen kosten scheut (streit), muss man an internen zusetzen (sich ärgern).

ich dachte daran, wie einfach es wäre, sich täglich acht, zehn, zwölf stunden an den schreibtisch zu setzen (sit down and start up …) oder ans stehpult zu stellen und zu arbeiten, wenn die einfälle nur kämen. es ist wie beim denken, mir scheint, es arbeitete sich leichter, wenn ich schneller zu denken vermöchte; es ist indes wohl nur fleiß, disziplin, … zuletzt: überzeugung, das richtige zu tun. wie überall und allezeit. ich habe mittlerweile jedoch das gefühl, es sei das richtige, was ich tue.

gelegentlich blitzt hoffnung auf, dass die strategie gelingen könnte, mit den projekten zum universitätsjubiläum mich selber aus dem sumpf zu ziehen. siehe: du kannst dinge bewegen. – mir hat jahrelang diese überzeugung gefehlt – wie wollte ich da auch nur eine aufgabe übernehmen. es stimmt schon: labore laudem laude laborem.

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geträumt: ein besuch im dom zu merseburg, in einem buch der name „albrecht der bär“, das gewölbe ausgemalt mit biblischen szenen, die trinität, christus wie man ihn etwa aus romanischen bibelillustrationen kennt, daneben der teufel mit hörnern als sei er ein alpenländischer dämon, und eine karre mit dem gnadenschatz der kirche, die karre ragt als plastik zum teil aus dem gewölbe heraus, gelungen der übergang zwischen wandmalerei und plastik, die perspektive erstaunlich stimmig. – aus einem nächtlichen wald ein roter laserstrahl, der schräg in den himmel verlief. – beim erwachen die frage, wie wohl das alltägliche leben in einer kleinen stadt mit gymnasium, apotheke, theater und zuckerrübenfabrik in mecklenburg-strehlitz, beispielsweise friedland, so um 1910 oder um 1925 ausgesehen hat.

beim gang über den nikolaikirchhof fühle ich mich immer so bürgerbewegt, nicht nur im oktober.

nichts, unterm strich des tages nichts. man könnte sich ärgern, ich ärgerte mich bis in den abend. man darf sich aber nicht kleinkriegen lassen von den misslichkeiten. immer einen gedichtband einstecken haben. allein mit poesie ist das leben ertragen.

was mir neben der erkundung der landschaft mitteldeutschlands zwischen prag und leipzig am herzen läge, wäre die selbstvergewisserung seiner gesellschaft, dazu einen beitrag zu leisten. der ort, an dem man lebt, verpflichtet

noch eine abschließende bemerkung zum umgang mit dem erbe des ddr-regimes, zu der ich mich als spät-, ja fast nachgeborener, aber gleichwohl leidenschaftlicher bewohner mitteldeutschlands berechtigt fühle. im umfeld der gedenkjahre der sprengung von st. pauli 1968 einerseits und der herbstrevolution von 1989 andererseits scheint es mir an der zeit, eine differenzierte, das ist immer auch eine leise und unpolemische debatte über die diktaturerfahrung einzufordern und zu beginnen. durch attacken nach dem muster des kalten krieges, wie sie allenthalben im streit um die universitätskirche wieder aufflammen, durchbricht man nicht das schweigen, das die politikwissenschaftlerin gesine schwan einmal als das „irrsinnige erbe nachdiktatorischer gesellschaften“ bezeichnet hat, man verhärtet vielmehr die überkommenen positionen – der ostdeutschen gesellschaft, ihrer erneuerung und ihrem selbstvertrauen wird damit in keiner weise geholfen. wir müssen wieder eine gemeinsame sprache finden, um uns unsere erfahrungen zu schildern, jeder zugewanderte ist dazu herzlich eingeladen, aber der antrieb muss von uns ostdeutschen selbst kommen, die wir durch teilnahme oder wenigstens mittelbar durch sozialisation betroffene sind, andernfalls ist die debatte aufgesetzt und damit wirkungslos. man mag diese positon nicht teilen, mir scheint sie aber der einzige weg zu sein. selbstgerechtigkeit und polemiken helfen meines erachtens dabei nicht, sondern bekennendes reden ohne beschimpfung, das grübelnde, zweifelnde, räsonierende wort, das den austausch von argumenten und eine sachbezogene debatte ermöglicht – die universität leipzig wäre ein ort dafür, wenn sie es will, wenn es die menschen wollen. (unveröffentlichter teil aus einem statement zum neubau des leipziger universitätscampus.)

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lila sei die trendfarbe des sommers. – allein die tatsache, dass ich mir solchen unsinn merke, verdient schläge und selbstkasteiung. nun ja. — wir fordern folglich: leipzig braucht eine universiätskirche, ohne glaswand, aber in lila – die lila leipziger universitätskirche als letzter versuch der rechristianisierung europas, die lila-laune-kirche, lila-leiki, lila-leuki, lila-lauki …

man möchte in der bibliothek in einem fort mit der kamera bilder festhalten von kommilitonen, die sich orientieren und einen ersten schritt in eine neue zeit tun, mit leidenschaft und kühnen vorstellungen. warst du jemals so? wieviel resignation hält man aus? wo ruhen, liegen die kräfte zum ständigen neuanfang – sie müssen doch irgendwo ruhen? in der tiefe, ich weiß, sagte ich.

im foyer des instituts, wo gerade poster und plakate zum verkauf angeboten werden (so wie man poster kauft und sich denkt, damit drücke man sich aus, wenn man sie im zimmer an die wand hängt, so sucht man sich auch lebensläufe aus – wer malt, gestaltet, designed schon ein poster für sich selbst; ich werde immer ganz traurig, wenn ich dieses bedruckte papier ansehe und mir die wünsche, sehnsüchte, hoffnungen vorstelle, die diese oder jener darauf projiziert) – im foyer ein pärchen, sie zwei köpfe kleiner als er, sie stellt sich auf die zehenspitzen, um ihn küssen zu können. ein bild, das einen mit melancholie erfüllt, innerhalb dieser technischen welt ein menschenpaar, sie wirken sehr verlassen, aber sie sind ganz auf sich bezogen: pereat mundus, … – ich wiederhole mich, was soll ich auch anderes tun? mir fällt nichts ein.

mir war kalt, ich musste etwas essen und trinken, manchmal vergesse ich das ja und bemerke es erst an einer fahrigen griesgrämigkeit. was blieb mir anderes übrig, als in eine nahe kneipe zu gehen? dort war mir sehr dekadent zumute. das ist das protestantische leistungsethos, das sich bemerkbar macht: was kannst du schon vorweisen, dass du berechtigt wärst, des abends in einer lokalität zu speisen? nichts, unterm strich nichts. einfälle genügen nicht, junger freund und alter kupferstecher. deine ideen sind weit davon entfernt, die massen zu ergreifen und zur materiellen gewalt zu werden (marx).

ein bild, darauf ein mensch mit gloriole aus kreisenden elektronen wie in bohrs atommodell. nette idee, aber beim abermaligen betrachten doch etwas fade – wie bei mir, wie bei mir.

am nachbartisch ein mann, der auf eine frau einredete. wie wird peinlichkeit soziologisch definiert? „fremdschämen“ heißt es wohl auch umgangssprachlich. jedenfalls merkte man deutlich, wie er eindruck machen wollte, laut, leise, witzig, ernsthaft – die ganze klaviatur. sie schien durchaus angetan zu sein, denn zum einen hatte sie sich auf die begegnung eingelassen und zum andern wendete sie sich ihm mit ganzem körper zu. – ich möchte zu gern solche balzgespräche aufzeichnen und weiter verfolgen, was sich daraus entwickelt. voyeurismus spricht nicht unbedingt daraus (ein stückchen schon, ein bißchen voyeurismus ist immer …), sondern vielmehr die tiefe neugier nach den mustern zwischenmenschlicher annäherung. schließlich muss man feststellen, dass es immer wieder ein wunder ist. sehen sich zwei, treffen sich und irgendwann, vielleicht, küssen sie sich und … fallen übereinander her, fühlen sich so stark zueinander, ineinander gezogen, dass alles übrige seine bedeutung verliert. ich staune, staune. wie ist das möglich, wie läuft das ab. ein wunder, ein rätsel: der flüchtiger augenblick, an dem einverständnis hergestellt wird und beide ihre lippen aufeinander zubewegen, ein flüchtiger augenblick und doch so gewaltig. – werde ich pathetisch? was heißt schon in dem zusammenhang „gewaltig“? – das eigentümlichste an dem wunsch der beobachtung ist wahrscheinlich, dass es dazu sogar schon experimente und studien gibt … — was jedoch am meisten berührt, peinlich berührt, ist die tatsache, dass ich der mann sein könnte, wie ich auf eine frau einrede und mein rad schlage, ich eitler pfau, nur ein reptilienhirn im kopf.

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die pechmarie von eger

im morgengrauen des 26. februar 1634, neuen stils, wie es sich gehört, war die magd marie svobodova als erste mit ihren beiden holzeimern auf den beinen, um am marktbrunnen wasser zu holen. es sollten gänse geschlachtet werden, weil die herrschaft, der kaufmann in eisenwaren balthasar schlick, gäste erwartete, den grubenbesitzer veit langgäßner etwa, der gute geschäfte für den rechtgläubigen münchner kurfüsten maximilian gemacht hatte und zum dank einige erzbergwerke im oberpfälzischen amberg ehedem erhalten hatte aus dem besitz des geächteten erzschurken gegen kaiser und reich christian von anhalt. der metallhändler schlick leitete übrigens den ursprung seiner familie aus der gleichen wurzel ab wie die umstrittenen grafen schlick von schlackenwerth, die oben im gebirge vor über hundert jahren dicht an der grenze zu kursachsen, wo die wittenbergischen ketzer und häretiker saßen, aber wohl nicht mehr lang sitzen würden, ein bergstädtlein gegründet und ihm den namen des vaters der gottesmutter, des heiligen joachim gegeben hatten und aus dem erzenen segen im berg noch immer gewinn und profit zogen – metall schien es, musste die familie im blut haben. die magd marie war auf dem weg zum brunnen, denn just gestern abend war die hölzerne wasserleitung zum hause schlick versiegt, entweder sie war verstopft, ein narr, der beim namen des hausherrn auf eine kurzweilige bemerkung diesbezüglich sinnt, denn er kennt den zorn des balthasar schlick nicht, der ihm das blut in den kopf treibt und den ganzen hals wie eine einzige ader anschwellen lässt …, oder sie war beschädigt worden durch die umtriebe der kaiserlichen, oder sollte man sagen: wallensteinischen? soldaten, die in der stadt und vor ihren toren lagen. wasser gab es jedenfalls nicht im haus und daher musste marie, die jüngste der mägde, im morgengrauen zum brunnen wasser holen. zu ihrem glück lag das schlicksche wohn- und warenhaus am markt, so dass sie nur eine kurze strecke laufen musste.

wie sie am rathaus vorüberkam, lief ihr ein junger kaiserlicher kornett über den weg, hinter ihm zwei mürrische, düster dreinblickende pikeniere, denen zu frösteln schien. der junge offizier, prächtig ausstaffiert mit lederwams, degen und einem roten federbusch am breitkrempigen hut, sah entsetzt und furchtbar traurig aus, als habe er in der nacht böse wein gezecht. nicht der frühe dienst lag ihm auf dem herzen, dieser stein wog schwerer. marie blickte nach unten auf das kopfsteinpflaster des marktplatzes (man kennt das), um den drei kaiserlichen nicht weiter aufzufallen, als sie es mit ihren beiden holzeimern in dieser frühe ohnehin schon tat. man erzählte sich so geschichten von männern, die seit jahren im felde lagen und kreuz und quer durch die lande gezogen waren; lieber fiel man nicht auf. der kornett hielt sie an, marie sah immer noch nach unten auf das pflaster, die eimer in ihren armen hörten auf zu baumeln und zu quietschen. wenn sie doch eine hasenscharte gehabt hätte, wie ihre schwester elisabeth, die auch im winter barfüssig lief und wohl noch immer im dorf bei den eltern lebte, der mutter zur hand ging und vermutlich so lange bleiben würde, bis erst die eltern gestorben waren und sie schließlich starb; denn wer wollte schon eine frau mit einer hasenscharte, da half auch die kleine aussteuer nichts, die die eltern hätten leisten können.

der kornett hatte geweint und schien jeden augenblick wieder damit beginnen zu können. er hieß marie mit ihm kommen und sie folgte, weil keiner wolllüstig war, der weinte. ihre unschuld würde sie einstweilen behalten, hatte sie sich auch eben noch mit zerrissenem rock auf dem pflaster in einem winkel hinter dem markt gesehen. der kornett schwieg, sie liefen auf das pachelbel-haus zu, das gelb gestrichen war und noch in der trübnis des böhmischen februar die kälte für einen augenblick vergessen machte. die kälte, die man besonders bitter empfindet, wenn man zu wenig geschlafen hatte, und die farben, die man dabei strahlender wahrnimmt; zu wenig geschlafen, als bisse man in einen fauligen, mürben apfel – den geschmack verliert man den ganzen tage nicht. vor dem haus standen weitere pikiniere und musketiere herum wie einst prall gefüllte weizensäcke. keiner sprach, durch die tür die treppe hinan ins obere geschoss. ein verwüstetes zimmer, tische, stühle umgeworfen, papiere verstreut, einige davon in einer verschmierten blutlache. der kornett wies darauf und sagte: wisch weg.

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gespräch mit dr. d.; jemand, der verhandlungen führen kann: den partner immer loben und ihm das gefühl geben, ernstgenommen zu werden, aber keine konkreten zusagen machen. – ich frage mich in solchen situationen immer, wie ich auf derlei menschen wirke. schwätzer, scharlatan …

meditation über das gewandhaus-motto res severa verum gaudium. was heißt: etwas ernstnehmen? was tut man im detail, wenn man sich einer sache mit ernst annimmt? man verzichtet darauf, launen und assoziationen nachzugehen, man denkt nur an die sache – gut und schön. wie fühlt sich das an: eine sache ernstnehmen? man bekommt gesagt, hinterbracht, man nehme dieses oder jenes ernst, aber man weiß dann trotzdem nicht: aha, das heißt ernstnehmen – sofern man ehrlich ist. denn man weiß ja selbst am besten: so ernst hat man die sache nie genommen, so strikte hat man sich ihr nicht gewidmet. ein sprachphilosophisches problem, wittgenstein, de saussure, semiotik. wie kann ich wissen, welche bedeutungen mit dem sprachlichen zeichen ‚baum‘ verknüpft sind, selbst wenn ich realisiere, auf welchen außersprachlichen gegenstand es sich bezieht, es erschöpft sich nicht darauf. liebe, arbeit, ernstnehmen. ungeheure unsicherheiten, man taumelt durchs leben und wundert sich, verstanden zu werden …

mein leben erfährt vertiefung durch die texte, die ich produziere. ich laufe herum und denke zuweilen daran, dass ich nicht allein ein gaukler und hochstapler im seriösen gewand des geldverleihers oder gottespredigers bin, sondern gleichsam wie ein treibnetz hinter und tief unter mir all diese texte ziehe. wenn die vertiefung meines daseins die einzige funktion der texte wäre, es genügte. — wenn ich große habe hätte und meine meinung etwas gälte vor den menschen (dabei vermag ich allenfalls ein kleinintellektueller aus der erzgebirgischen provinz zu werden), wenn ich mein leben bestritte und rechtschaffen genannt würde – und hätte doch keine vorstellung von der tiefe meines daseins, von den funkelnden möglichkeiten der existenz, ich wäre nur ein armer knecht, ein korkstück auf den wellen im getriebe. – man verzichtet immer, wenn man sich entscheidet (phrase, binsenweisheit!, grummelt der zweifelzwerg im ohr, der sich für einen stilberater hält), aber auf die lotung der tiefe zu verzichten zugunsten von ruhm und wohlstand, es erscheint mir ein schlechter tausch. freilich: ich kann so reden, ich lebe ja im wohlstand … ich könnte an der welt verzweifeln, aber um wieviel mehr müsste ich verzweifeln, lebte ich auf bescheidenerer stufe. zum verzweifeln immer. woher die kraft zum weitermachen? aus der tiefe, womöglich …

während der feierlichen immatrikulation suchte ich mir unter den sängerinnen des universitätschors, die mir gegenüber auf der orgelempore saßen, eine mit brünetten, langen haaren aus und kam immer wieder auf sie zurück, wenn ich einem gedanken nicht mehr länger nachhängen wollte. ist das schon sexismus? – ein paar kirchenaktivisten enthüllten ein spruchband mit der aufforderung, die christen nicht in die vitrine zu sperren – für eine universitätskirche st. pauli. wie ich noch überlegte, ob ich das transparent fotografieren sollte oder nicht, wurde es auch schon wieder eingeholt. ein weiterer beleg, dass ich nicht zum journalisten gemacht bin – oder man muss es sich vornehmen und sagen: egal welchen eindruck es macht, fotografier!, wenn’s dir notwendig erscheint. mein antrieb ist ja kein entblößen, sondern das staunen (das am anfang der anthropologie stehe) und die verwunderung, was es alles gibt.

am rande der feierlichen immatrikulation erzählte mir der chemiker k. k., seine frau habe ihn immer gescholten, wenn er beobachtungen und geschehnisse notiert hätte. wer das denn lesen solle? und ähnlich hans-erich nossacks antwortete k., wenn in hundert jahren einer oder zweie dies läsen und ihre vergangenheit besser verstünden, so reichte es ihm. genügt das? und, noch wichtiger: kann ich mit diesem geschwafel hier so einen anspruch erheben, ich mediokrer nenn-gelehrter, ich kleinintellektueller. so viel wird geschrieben, lautete da nicht das gebot: schweigen. außerdem: si tacuisses, … – ganz abgesehen von diesen fragen nach der berechtigung gibt es die viel grundsätzlichere frage nach dem unterhalt: wer zahlt die spesen?

ich erzählte c. w., ich erinnerte mich genau daran, wie ich 2003, als der streit um die universitätskirche schon einmal hohe wellen schlug, in der badewanne saß und nur dachte: man müsste sich zu wort melden, aber ich fühlte mich als junger student nicht berechtigt, mich zu wort zu melden. – wenigstens hat sich inzwischen insofern eine veränderung, verbesserung ergeben, als mir zugestanden wird, mich zu wort zu melden. mir ist natürlich klar: es gibt auch dafür gründe, die universiät braucht studierende, die sich für sie aussprechen in der leidigen angelegenheit. spreche ich für mich oder spreche ich für die universität? der ort, an dem man lebt, verpflichte, sagt andrzej stasiuk. ich fühle mich verpflichtet. ich spreche für die universität, weil ich für mich spreche. und so weiter, auch dies ein ausgangspunkt für eine lange betrachtungsspirale, die immer ausgedehntere weiterungen erfährt. man tut gut daran, sich nicht locken zu lassen – und abzubrechen. abbruch als bedingung zum aufbruch – und menschen bösen willens könnten meinen, ich hieße damit die sprengung von sankt pauli gut. wer jedoch etwas auf die meinung von menschen bösen willens gibt, ist, fürchte ich, selber einer … abbruch. – eitel spiegelei, eitler bespiegler.

unumwunden zugegeben und auch vor jahr und tag schon einmal so formuliert: die selbstbeschimpfung als haschen nach wohlwollen. so schlimm, dumm, mittelmäßig, … bist du gar nicht, ganz im gegenteil. – allein, man findet wohl kein urteil über sich, mit dem man sich zufrieden geben könnte – an dem unser inständiges fragen zu einem stillstand käme …

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geträumt: ich sah einen text vor mir, ohne ihn lesen zu können, und wusste: ein strittmatter-gedicht.

mir begegnete eine, wie sagt man politisch korrekt, farbige – vermutlich schon wieder rassismus – kommilitonin und ich dachte, ihr leidenschaftliche eleganz in der bewegung zuzuschreiben, ist gewiss rassistisch, aber ohne die ständige rassismusdebatte wäre ich nie auf den gedanken verfallen, ihr leidenschaftliche eleganz in der bewegung zuzuschreiben.

im grunde genommen handelt es sich auf diesen seiten um die ständige, wohl eher ermüdende als ermunternde variation zweier themen: frauen und die frage, ob man das richtige tut – ich bezweifle, ob das genügt als berechtigung zur textproduktion, aber zum einen ist das bereits wieder eine variation des zweiten themas und zum andern heißt es ja bekanntlich: wer kann, der tut – und noch kann ich weiter an meiner suada schreiben.

ich lese von lyrikerinnen, rothaarigen und brünetten, die jünger sind als ich und gedichtbände vorgelegt haben, romane schreiben und auszukommen scheinen; ich lese deren aufzeichnungen und verzweifle, weil ich keine differenz spüre.

ich habe einen text geschrieben und halte ihn für vorzeigbar, ja mehr noch: er gefällt mir. zugegeben, man bewertet eigene texte immer nachlässiger als fremde, so stellt man auch keine differenz fest. ich kann aber nicht erklären, warum mir der text gefällt, was daran gelungen sein soll. je mehr ich darüber nachdenke, um so zufälliger erscheint mir seine gestalt. die kontingenz der texte – spiegelt sie die kontingenz der welt. große worte, aber ich fühle mich wie ein blinder, der über van gogh schreibt. ich fühle mich immer wie ein blinder, der über van gogh schreibt. kann so sein, kann aber auch ganz anders sein, kann ich morgen schon ganz anders sehen oder in zehn jahren noch genauso. ich kann nichts mit bestimmtheit sagen, die verwunderung über meine ahnungslosigkeit und meine hilflosigkeit ihr gegenüber bezeichnen meine existenz. – jedenfalls, ich kann bei genauer betrachtung immer weniger erklären, warum mir jener text gefällt. er erscheint mir, je tiefer ich mich in ihn versenke, um so grober zusammengezimmert. ich kann auch nicht erklären, warum ich an dieser stelle dieses wort und an jener stelle ein anderes wort verwendet habe, warum sich an diesen satz jener, an diesen gedanken jener … anschließt. – oder liegt das geheimnis darin, dass ein text keine formel ist, die man begründen und herleiten kann, dass es schlichtweg keine formel für assoziationen gibt. trotzdem bleibt der bohrende gedanke, das sei lediglich so ungefähr und obenhin geschrieben, das müsse alles noch präziser ausgeführt werden. ich stelle mir zuweilen vor, wie leicht es wäre, wenn man besser, schneller und tiefgründiger denken könnte – aber vielleicht ist das nur eine illusion. –- kommt wer, klopft mir auf die schulter und sagt: ist schon in ordnung, was du machst und wie du bist – indes, niemand kommt.

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geträumt: ich gründete im mittelalter ein kloster und gäbe der gemeinschaft eine neue ordensregel: kein alkohol, kaum fleisch und kein schwein, lesen, schreiben, rechnen für alle mönche, körperliche ertüchtigung und am alten testament orientierte körperhygiene, ein bädertrakt im kloster …

m. w. machte front in der bibliothek, lächelte, ja winkte sogar – ich erinnerte mich der volten, die mein herz schlug bei ihrem anblick vor jahr und tag. frau w-punkt, apostrophierte ich sie seinerzeit. übrigens eine theologin, die sich vielleicht zumindest für die diskussion über gott und die welt gewinnen ließe. aber meine euphorie währte nur kurz, bis ich bemerkte, dass ihr gruß der kommilitonin galt, die rechts von mir saß. sic transit gloria mundi, fällt mir gerade ein und ich überlege, ob es ganz und gar nicht oder doch sehr treffend sei … – trotzdem ließ sie mir mit ihrem blonden haarschwanz, den sie so selbstbewusst und asketisch trägt, keine ruhe. ich lief eine schleife durch die bibliothek und bekam heraus, wo sie saß. – hernach auf der suche nach einem band kunert für den fotokatalog-essay, sah ich sie an der ausleihe. wie ich noch den band im regal suchte, hatte ich das bedürfnis, mich hinter sie in die reihe zu stellen und ein gespräch zu beginnen: kennen wir uns nicht aus dem proseminar mittelalter, du hast damals die martinslegende so bezaubernd wiedergegeben … als ich mich schließlich in die schlange stellte, war sie weiter nach vorn gerückt, andere frauen, allesamt uninteressant für den moment, hatten sich dazwischengedrängt – wer will, kann darin eine einfache parabel lesen. jedenfalls: chance verpasst. ich merke immer erst später, wenn es eine gelegenheit gegeben hat, zwar zuweilen nur kurz später, aber immer zu spät. sie erblickte mich dann doch noch und lächelte mich kühl an, derart als hätte ich dies lächeln durch einen eindringlichen blick erzwungen, ohne es verdient zu haben. vermutlich weiß sie kaum, wer ich bin. so hütet man alle seine kleinen leidenschaften im hamsterbau und meint, die ganze welt wisse bescheid, müsse bescheid wissen und wenn niemand entsprechend reagiert, ist die welt schuld. frau w-punkt.

ich gebe zu, viele meiner texte aus keinem andern grunde verfertigt zu haben, als für diese kurze weile des schreibvorganges andernorts zu sein, abwesend von den äußeren umständen meiner existenz. ich „räume ein“, ich habe mich in niederschriften geflüchtet. ich bin, zumindest stundenweise, aus meinem dasein desertiert, aus einem zeitweilig selbstzerstörerischen getümmel, aus einem entnervenden nahkampf. ich habe mich in sätze zurückgezogen wie in einen unterirdischen bau, um atem zu holen, auszuruhen. die wortfolgen haben die aufregungen gestillt. aber es waren viele worte nötig. (…) vor allem die beschreibung eines zerfallenden hauses tat mir gut, die kurzfristige erlösung trat ein, wenn mich die magische kraft einer aufs gegenständliche gerichteten wörtlichkeit erfüllte, wenn die angerufene sache mir so deutlich erschien, als sei sie berührbar. ich, ja kein anderer als ich, wie ich merkte, betrat bereits mit den ersten flüchtigen silben eines der besagten gebäude, hörte das holz der stufen schon nach den ersten schritten knarren (…) würde man mich heute fragen, wozu ein derartiges eingedenken (…) wohl gut wäre, ich wüßte kaum eine befriedigende antwort. ich müßte mich mit einer gegenfrage aus der affäre ziehen: wo sonst kann man denn eigentlich leben außer in wörtern und sätzen, die den immer unbetretbaren ort benennen?

(günter kunert: heimat, in: ders., schatten entziffern. lyrik, prosa 1950-1994, leipzig 1995, s. 46f.)

es gibt einen text, in dem ich ein altes, frei erfundenes zollhaus, auf einer hochfläche am erzgebirgskamm in der ungefähren mitte zwischen prag und leipzig beschreibe, ich gehe in diesem haus umher, als existierte es, als wolle ich es bauen – dabei hat der text vermutlich keine anderen sinn als die flucht aus der welt, als sei diese alte, kursächsiche zollstation der versuch, den unbetretbaren ort zu beschreiben.

auf einer baumkargen hochebene, neunhundert meter über der ostsee vor kap arkona, in der ungefähren mitte zwischen leipzig und prag, steht ein fachwerkhaus, unten mit einer verputzten, gekalkten bruchsteinmauer, die giebel und das dach mit holzschindeln beschlagen, wettergrau. rings um die ebene haben sich bäche und flüsse tief ins basaltgestein eingegraben und enge täler mit sonderbaren felsfiguren geschaffen, butterfässer, orgelpfeifen, musketenläufe. ein schmaler weg, bestanden von windkrummen ebereschen, denen man die qualen hier oben zu wachsen ansieht (als seien sie alte männer, dürr, faltig, denen hüft- und schultergelenke schmerzen, ächzen und knarren, die aber trotzdem die kähne voller marmorsteine weiter den fluss hinauftreideln), quert die kleine hochfläche von west nach ost. winterfalbes gras breitet sich aus, hier und da ein wenig buschwerk; nuschelnde bäche mit gläserscharfem wasser drücken sich herum; gelegentlich wissen sie gar nicht weiter und werden sumpfig.

das bruchstein-fachwerk-holzschindelhaus hat die in steine gefasste eingangstür nach westen zu; der türrahmen trägt ein sächsisches wappen mit zwei gekreuzten churschwertern und die jahreszahl 1659. es ist ein altes zollhaus an der passstraße ins böhmische über preßnitz, kaden nach prag. einige ulmenbäume umstehen das haus; mehr ein rätsel als ein wunder ist der kleine pflaumenbaum, der sich unter sie gemischt, gestohlen hat, denn wie er in diesem stetigen kalten wind jahr für jahr blüht und früchte trägt, ist weniger wunder- als vor allem rätselvoll. das fachwerk fasst, sofern es nach süden und westen weist, nicht lehm sondern glas.

nachts wölbt sich der milchstraßenbogen über dem haus; aus seinem innern schimmert es kohlefadengolden. knarrende, zeitgeschwärzte dielenbretter darinnen, nussbaumhölzerne vertäfelungen an decken und wänden. eine breite diele hinter der gewappneten tür, mit glatt geschliffenen steinen, rechts eine treppe in die tiefe hinein.

das motiv ist ganz simpel: um zu leben. nicht im sinne von sich-physisch-am-leben-erhalten, sondern in einem anderen, was ich im folgenden zu sagen versuchen will. in jüngeren jahren scheint die anzahl der wählbaren existenzweisen, in denen man aufgehen könnte, unbegrenzt zu sein; so viele möglichkeiten bieten sich an, dass einem vor der vorgeblichen fülle des lebens der verstand, zumindest der wille stillsteht, sich rasch für eine zu entscheiden. man probiert dies und jenes (…) wechselt (…) ideale, um am ende kein befriedigendes resultat zu erhalten. man findet, man habe seine fähigkeiten vertan, die möglichkeiten verspielt, indes andere klug genug gewesen sind, sich beizeiten zu entscheiden. doch auch die anderen, die offensichtlich über jahrzehnte hinweg eine kontinuierliche entwicklung genommen [hier fällt mir der werdegang des historikers s. ein, der nach langer akademischer laufbahn und mühsamem warten – reines warten ist folterqual (thomas mann) – nun einen ruf erhalten hat, man merkt ihm sein inneres jubilieren an, wenn er scheinbar ganz gelassen am geländer im institut lehnt], erweisen sich als unzufrieden: sie wiederum halten das experimentelle, ergebnislose leben für ein prall-erfülltes und sehen das scheitern als ein gelingen an. das rührt von einem tiefen misstrauen gegenüber dem eigenen lebenslauf her, weil ihn fast jeder aus einer irrealen, häufig sogar der trivialkunst entstammenden perspektive wahrnimmt und bewertet. (…) schreiben: weil schreiben nichts endgültiges konstituiert, sondern nur impulse gibt; weil es ein unaufhörlicher anfang ist, ein immer neues erstes mal, wie beischlaf oder schmerz. solange man schreibt, ist er untergang gebannt, findet vergänglichkeit nicht statt, und darum schreibe ich: um die welt, die pausenlos in nichts zerfällt, zu ertragen.

(ders., warum schreiben, in: ebd., s. 140ff.)

die wahre wahrheit, man kann nur abschreiben und abnicken, abschreiben und abnicken: so ist es, so ist es, so ist es. wie ein mantra. – dabei fällt mir ein, dass ich vor zehn, zwölf jahren viel kunert las, eine frühe prägung. man kann nur kommentieren. aber genügt das? wo ist das eigene? – es liegt auf der straße, heißt es dann gleich, man muss es nur wahrnehmen und gestalten können. that’s the point, my dear friend, that’s the point indeed. you’re not to the sky (ist zwar blödsinn, klingt aber dennoch schön, der letzte satz …)

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