joachim kaiser räsonniert in der süddeutschen zeitung darüber, warum kaum einer von den intellektuellen der weimarer republik die gefahr des nationalsozialismus erkannte und sich mit allen mitteln der öffentlichkeit dagegen wandte. das erinnert ein wenig an ein alternativszenario, das alexander kluge in einem interview entwickelt: eine versammlung von einhunderttausend lehrern, die 1928 entschieden hätte, alles zu tun um einen krieg zu verhindern, hätte die fähigkeit gehabt, so kluge, sowohl den krieg als auch die shoa zu verhindern, während man selbst mit den besten mitteln 1943, als die auschwitzer vernichtungsmaschinerie auf vollen touren lief, nicht viel hätte mehr erreichen können (leute wie ralph giordano würden vermutlich einspruch erheben und mir selbst erscheint weder das szenario plausibel noch das fehlen von handlungsoptionen zu besagtem zeitpunkt). diese blindheit stellt er die untergangsprophetie der künstler am ende des bürgerlichen 19. jahrhunderts gegenüber; im vorfeld des ersten weltkrieges habe es eine ganze reihe von kunstwerken aus malerei, musik und literatur gegeben, die die katastrophe ankündigten, die die katastrophenschwangere atmosphäre in metaphern transponierten. angesichts dessen fragt er mit blick auf die gegenwart: (…) wer weiß schon, welche gegenwärtig herannahenden, blutig-existentiellen bedrohungen wir alle im jahre 2010 nicht erkennen (…) – und schließt mit dem seufzer: (…) wenn man nur wüsste, wo immer gerade das wesentliche geschieht.1 – aber das wesentliche ergibt sich in aller regel erst aus der geschichtsschreibung späterer zeiten, so dass man es kaum erkennen kann; die besprechung einer biografie wilhelm von habsburgs2 machte mir einmal mehr bewusst, wieviele ansätze zu möglichen zukünften in einer bestimmten gegenwart liegen; den zeitgenossen verwirrt diese fülle, der nachgeborene überblickt sie kaum mehr und kommt deshalb zu dem trugschluss, das wesentliche lasse sich tatsächlich auch in seiner schieren gegenwart erkennen.

1 joachim kaiser: ahnungsvolle künstler, in: sz vom 27.04.10, s. 15.

2 er setzte in der zwischenkriegszeit von paris aus alles mögliche daran, den traum seines lebens zu verwirklichen, der am ende des ersten weltkrieges schon einmal zum greifen nah war, nämlich könig der ukraine zu werden. aber was weiß man schon von derlei unternehmungen, die in ihrer zeit auch menschen faszinierten und zu taten voller wagnisse ermunterten, die alle umsonst getan und gewagt wurden … – vgl. timothy snyder, der könig der ukraine. die geheimen leben des wilhelm von habsburg, wien 2010.

Veröffentlicht unter anthropologie, erinnerung, historiografie, mitteleuropa | Schreib einen Kommentar

britischer physiker hawking warnt vor überlegener zivilisation im all // es ist wahrscheinlich, dass es außerirdische gibt, die uns feindlich gesinnt sind. davon geht jedenfalls der britische physiker stephen hawking aus. im amerikanischen fernsehen sagte hawking, ein besuch von außerirdischen auf der erde könne so enden wie columbus‘ entdeckung amerikas – nämlich zu ungunsten der ureinwohner. für das nachdenken über außerirdische bieten sich nach ansicht des wissenschaftlers auch mathematische methoden an. die herausforderung sei es, zu berechnen, wie die fremden wesen aussehen könnten. hawking hält es für wahrscheinlich, dass es sich um glühende, tintenfischartige wesen handeln könnte.1

denkt jemand einmal über die kulturellen muster nach, die in phantasien von außerirdischen besuchern manifest werden? es lassen sich im grunde genommen zwei archetypen unterscheiden: der auftritt als weiser lehrer und der als rücksichtsloser eroberer; beispielhaft seien die beiden filme gegenüber gestellt: independence day von 1996 und contact aus dem jahr 1997. interessant wäre in diesem zusammenhang einmal eine kulturgeschichtlich-ethnologische studie, die phantasievölker der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen kartografie bzw. weltbeschreibung mit den populären phantasien über außerirdische in der gegenwart vergleicht: am rande der bekannten welt und noch mehr jenseits davon tummeln sich völkerschaften mit abenteuerlicher gestalt – ob man herodot liest oder den reisebericht des johann von mandeville oder zeitgenössische science fiction.

1 deutschlandradio kultur, kulturnachrichten vom 26.04.10.



Veröffentlicht unter anthropologie | Schreib einen Kommentar

max steinmetz, der geschichtsschreiber des marxistischen interpretationsmusters „frühbürgerliche revolution“ ist 1912 geboren wie erich honecker: in jenem jahr, als mit dem untergang der titanic das ende des bürgerlichen zeitalters angedeutet wurde – so wie das erdbeben von lissabon für den nachgeborenen das ende des ancien régime in der französischen revolution anzudeuten schien und die reaktorkatastrophe von tschernobyl den zusammenbruch des sowjetischen imperiums. steinmetz starb im revolutionsjahr 1990 – und zwar bezeichnenderweise vor der wiedervereinigung genau an eben jenem 11. september, der ein gutes jahrzehnt später mit den anschlägen von new york und washington zum beginn des 21. jahrhunderts werden sollte, also zum definitiven ende des 20. mit dem dessen zweite hälfte prägenden kalten krieg, der wiederum auf jene ur-katastrophe zurückgeht, auf die der untergang des titanenschiffes so prophetisch hinzuweisen schien. ein jahr vor dem tod von steinmetz wurde durch die offizielle ddr feierlich-offiziös das müntzerjahr begangen mit der programmatischen einweihung des bad frankenhausener bauernkriegspanoramas werner tübkes am 14. september als höhepunkt.

so kann man aus einer handvoll daten die größte verwunderung ableiten und einen geheimen plan vermuten, wenn man nicht wüsste, dass sich wegen der schier unendlichen anzahl an daten jeder mögliche zusammenhang konstruieren lässt. dennoch ergeben sich mit diesem verfahren zuweilen überlegungen, die historiografisch zwar unsinn sind oder wenigstens ohne jede bedeutung, denn was heißt es schon, wenn max steinmetz genau elf jahre (sonnenumläufe) vor dem, längst zur chiffre gewordenen elften september gestorben ist? – überlegungen, die aber einigen literarischen reiz besitzen, weil sie uns ein sozusagen: sub-kutanes bild der vergangenen wirklichkeit liefern, das eine ganze reihe unserer deutungen fasst.

Veröffentlicht unter erinnerung, historiografie, poetik | Schreib einen Kommentar

geträumt: ich unterhielt mich an einer improvisierten kaffeetafel mit einigen mir fremden personen; am rande saß wolfgang schäuble und hörte zunächst mit seinem beredten schweigen zu, bevor er sich in das gespräch einschaltete, als die rede auf den afghanistan-einsatz kam. der raum ähnelte stark einem klassenzimmer im erdgeschoß des annengymnasiums, in dem hauptsächlich geografie unterrichtet wurde. im kern ging es um den verlust von kriegs- und gewalterfahrung im kollektiven gedächtnis; inzwischen sind fünfundsechzig jahre seit dem zweiten weltkrieg ins land gestrichen und diejenigen akteure, die in die erste reihe des berliner politikbetriebs vorstoßen wollen, verfügen nicht einmal mittelbar mehr über erfahrungen dieser art, so dass ungeniert und kaum widersprochen über eskalationsstrategien („panzerhaubitze“1) und ähnliches gesprochen werden kann.

mangelnde er-fahrung hat, so scheint es, wieder einem militärischen machbarkeitswahn das feld bereitet, der katastrophen vorauszugehen pflegt. sommer 1806 – auch wenn in absehbarer zeit kein taliban-napoleon durchs brandenburger tor reiten wird, ist die entscheidende frage, wie man aus dem hindukusch-abenteuer2 kommt, ohne arg das gesicht zu verlieren. ich wollte, führte ich schäuble gegenüber weiter aus, karl-theodor zu guttenberg nicht als kriegstreiber hinstellen, aber bei äußerungen manch anderer habe man so seine zweifel …

als unwichtigem, marginalen deutschen bürger, als „gemeinem mann“, in dem noch immer mehr lutherisch geprägter untertan einer „oberkeyt“ als republikanisch-zivilisierter citoyen steckt und schlummert, wird einem beständig der eindruck vermittelt, regierungshandeln sei kühl abgewogen, vernünftig und gewissenhaft, darüber hinaus halte es immer verschiedene alternativen im blick – während man sich selbst in seiner kleinen, „gemeinen“ welt durch alle möglichen laster wie trägheit, eitelkeit und so fort in situationen manövriert, aus denen man nur schwer herauszukommen vermag. aber um die achtung der anderen und die selbstachtung nicht zu verlieren, zeigt man selten reue, buße, umkehr, legt selten eine entschlossenheit an den tag, tatsächlich schritte zu tun, die aus dieser situation führen. statt dessen wartet man nach art der kaninchen in die bodensenke geduckt ab, ob verhängnis und weltläufte nicht doch vielleicht über einen hinweggehen ohne einen zu berühren. der so genannte afghanistan-einsatz lehrt indes, dass überall nur mit wasser gekocht wird: in berlin, am hindukusch – wie bei dir selber hinter deinen sieben bergen.

je genauer man sich die angelegenheit betrachtet, desto verzweifelter wird man – nicht etwa wegen der drohenden militärischen niederlage, vielmehr wegen der beispielhaften fahrlässigkeit, ja blauäugigkeit, mit welcher das unterfangen begonnen wurde. ärmelhochkrempeln: jetzt wollen wir mal ein wenig demokratie verbreiten … man denkt immer: da müssen unzähige fachleute intensiv befragt, unzählige studien und entwicklungsszenarien erstellt worden sein – statt dessen wurde offenbar einfach drauflosmarschiert, so wie liesgen müller sich etwa ein auto kauft, ohne im mindesten an ihre einkommenssituation zu denken. einrücken mit klingendem spiel und wehenden fahnen, auf denen man sich groß menschen- und insbesondere frauenrechte geschrieben hat – und wenn es nicht so läuft wie gewünscht, mit einer lauen entschuldigung auf den lippen wieder fersengeld geben.

der gußstählernen panzerhaubitze geht in der regel die rhetorische voraus. man möchte zuweilen vor verzweiflung gegen eine wand laufen und vor scham im boden versinken. wäre es nicht die eigene wirklichkeit, sondern nur ein fernsehprogramm, ich hätte längst versucht umzuschalten. dabei bedeutet es keineswegs, dass alles schlecht sei in afghanistan, nur wenn man feststellt, dass dort nichts gut sei.3

1 noch zu jahresbeginn hätte man fragen können, worum es sich bei einer haubitze handelt: a) ein mitteleuropäischer singvogel, der vom aussterben bedroht ist; b) ein artillerie-geschütz mit langer reichweite oder c) ein winterhartes ziergehölz, das ursprünglich aus den hochgebirgslagen des kaukassus stammt? inzwischen gehen solcherlei begriffe wieder so locker von der zunge, als säße man an remarques stammtisch in der heimatfront und räsoniere über die möglichkeiten, die feindlichen linien zu durchbrechen … – wundert sich niemand?

2dieses land wird unter meiner führung für abenteuer nicht zur verfügung stehen„, bemerkte gerhard schröder im sommer 2002, als die vorbereitungen für die invasion am golf anliefen – aber da standen schon deutsche truppen am hindukusch … – ich fühle mich ein wenig beklommen, wenn ich so eine formulierung verwende: „deutsche truppen stehen am hindukusch“. aber derlei ist ja allenthalben wieder im schwang, so als ob nach sechzig jahren die selbstbeschränkung abgeschüttelt werden darf und „deutsche truppen“ wieder irgendwo in der welt „stehen“ dürfen. mir ist dabei ein wenig unbehaglich und unheimlich zumute, diese mischung aus frontberichterstattung und shakespeare verleitet zur selbstüberschätzung. zivile äquivalente sind etwa „nation-building“ oder das „implementieren von demokratie“.

3 nichts ist gút in afghanistan, meinte margot käßmann in ihrer neujahrspredigt, aber alle hörten, níchts sei gut in afghanistan, weil alle es hören wollten – um aufgeregt wie ein hühnerhaufen durcheinanderzulaufen.

Veröffentlicht unter deutschland, traum, welt | Schreib einen Kommentar

richtung bayrischer bahnhof begegnete ich in der riemannstraße kurz hinter dem institutsgebäude u. j., (…). während wir an der (neuen) peterskirche vorüberkamen, sprachen wir über das gebäude und ich konnte, weil ich vor einiger zeit einmal nachgelesen hatte, ein kleines referat zum besten geben, als kennte ich mich in der leipziger stadtgeschichte aus wie in meiner westentasche … mein interesse an der kirche entsprang einer debatte, ob sie auf einen vorgängerbau aus dem mittelalter zurückgänge, der an derselben stelle stand. das schien mir wegen der lage außerhalb der stadtmauern eher abwegig. wie sich zeigte, bezieht sie sich auf die (alte) peterskirche, die unmittelbar an der stadtmauer in der nähe der pleißenburg gestanden hatte und die petersbogen, petrinum, in dem seit dem 15. jahrhundert die juristen der universität saßen, peterstor, -straße und -steinweg den namen gab. in gewisser weise hat gerhard graf mit seinem diktum, die landschaft sei die quelle, durchaus recht: im konkreten fall der peterskirche wäre der ausgangspunkt zu weiteren untersuchungen die eigentümliche räumliche distanz zwischen dem heutigen ort der kirche und der häufung weiterer bezeichnungen, die den namen des jüngers und apostels tragen; eine räumliche unschärfe in der landschaft, die wie eine sprachliche, formale oder inhaltliche unschärfe innerhalb eines textes anlass bietet zum weiteren nachdenken und -forschen. wenn man es schließlich so versteht, dass in eine bestimmte landschaft texte eingeschrieben oder über sie gebreitet sind, wird die auffassung einer landschaft als quelle noch offenkundiger.

Veröffentlicht unter historiografie, leipzig, staunen | Schreib einen Kommentar

abends eine dokumentation über die portugiesische künstlerin joana vasconcelos,1 die gegenstände mit häkeleien überzieht und damit merkwürdigerweise einen ästhetischen effekt erzielt, der über das bloße kunsthandwerk hinausreicht. – klöppeleien anfertigen und damit gegenstände überziehen und klöppeleien in hohlräumen (flaschen, kirchen, bergwerks-stollen, industrie-ruinen, wo sie maschinen ver-schleiern) auf-spannen: klöppel-künstler/in. klöppelei als ein niederschlag, als explizite ausformung eines kulturellen gedächtnisses ähnlich des „bunten rockes“ von josef, seiner ketônet passîm, wie es von thomas mann in seinem romanwerk beschrieben wurde.2 dabei sollten mithilfe der spitzen szenen aus der wirtschafts- und industriegeschichte des erzgebirges gestaltet sein, so wie man sie sich in der gegenwart vorstellt, von kaspar neitzelt und daniel knappe bis zu den abgewickelten maschinenbau- und textilfabriken. zwischen dem betrachter und dem gegenstand, dem artefakt vergangener wirklichkeit, steht die spitzenklöppelei mit ihren ausgestalteten vergangenheits-vorstellungen wie die erinnerung: gegenstände, die von erinnerung eingesponnen sind, werden artefakte.

1 sarah blum, künstler hautnah: joana vasconcelos, arte 2010.

2 thomas mann, josef und seine brüder, ffm. 2007, s. 216f., 349. – vgl. daneben jan assmann, thomas mann und ägypten, mnch. 2006, s. 67-83, insbes. s. 69-71; assmann begreift mann als kulturwissenschaftler avant la lettre, der innerhalb seines romans „einen der klügsten, reflektiertesten und differenziertesten“ (17) versuche unternommen habe, eine theorie des kulturellen gedächtnissses zu entwerfen, „eher am konkreten beispiel exemplifiziert als abstrakt-begrifflich entfaltet“ (71), wie assmann dem dichter zugesteht.

Veröffentlicht unter erinnerung, erzgebirge, poetik | Schreib einen Kommentar

abends dachte ich nach der ersten, oberflächlichen lektüre einiger adam-ries-biografien1 über die möglichkeiten und aspekte einer (geschichts-) wissenschaftlichen monographie über das leben des rechenmeisters nach. die darstellung müsste eingebettet sein einerseits in die von humanismus und reformation geprägten intellektuellen und andererseits in die sozioökonomischen strukturen der zeit. letztere wurden, was annaberg als den ort von riesens wesentlichem wirken betrifft, bestimmt vom frühkapitalismus des erzgebirgischen bergbaus, aus dem sich eine vielfältige, differenzierte gewerbelandschaft zu entwickeln begann.

wie in einer versuchskammer zeigten sich hier soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche probleme, die für die moderne seit der industrialisierung charakteristisch sind. das kühle kalkulieren des kaufmanns und der entzauberte blick, den der unternehmer auf die welt wirft, traten wie scheinbar aus dem nichts auf. in all dem geschehen steht adam ries mit seiner rechenschule und seinen rechenbüchern, dessen erstes er schon 1518 ausdrücklich auf deutsch in druck gab, damit es der gemeine mann rezipieren könne – kurz nachdem der theologieprofessor aus wittenberg seine thesen noch in gut spätscholastisch-humanistischer manier auf latein veröffentlicht hatte. zahlreiche aspekte der modernisierung werden hier bereits greifbar – und zwar nicht nur solche, die durch luthers reformation in gang gesetzt wurden, sondern beispielsweise eben auch eine dezidiert unternehmerisch-kapitalistisch geprägte rationalisierung.

zu fragen wäre zum einen nach dem verhältnis von adam ries zum humanismus, inwiefern man ihn etwa als humanisten bezeichnen kann. denn obwohl er im erfurter humanistenkreis um georg stortz wesentliche impulse für seine mathematischen studien erhalten hat, beschreitet er mit seiner orientierung auf arabische zahlen und das federn- oder buchstabenrechnen nun gerade keinen weg ad fontes; er geht vielmehr in der jungen tradition der rechenmeister des späten 15. und frühen 16. jahrhunderts schritte in eine ganz neue richtung. dieser aspekt scheint mir im zusammenhang mit dem intellektuellen, humanistischen umfeld bislang noch gar nicht recht erörtert worden zu sein.

zum anderen muss meines erachtens für die bergbau- und gewerbelandschaft des sächsischen (west-)erzgebirges einmal ganz ausdrücklich nach modernisierungselementen jenseits der lutherischen reformation und deren gesellschaftlichen implikationen gefragt werden. blieb die rationalisierung von lebensführung und weltwahrnehmung, die aus dem geist des (bergbau-) unternehmertums entsprungen war, tatsächlich folgenlos, verschwand sie gar wieder während des niedergangs der silberproduktion im weiteren verlauf des reformationsjahrhunderts und machte der kulturellen wirkung des luthertums ganz und gar platz – oder verband sie sich damit auf eine eigene besondere weise?

kann man die anpassungsstrategien der erzgebirgischen bevölkerung in der depression des montanwesen während des 17. jahrhunderts nicht auch als eben durch und durch moderne krisenreaktionen betrachten? im erzgebirge gab es keine hauptsächlich bäuerlich geprägte bevölkerung wie in weiten teilen des restlichen alteuropas, vielmehr befand sie sich meistenteils entweder mittelbar oder unmittelbar in durch lohnarbeit geprägten arbeitsverhältnissen – und blieb es auch nach der hausse im bergbau. zudem war die trennung zwischen stadt und land nie so scharf, wie man es aus der vor- und frühmoderne gewohnt ist; bergleute lebten auf dem dorf und fragten verschiedene gewerbe nach, während die bewohner der bergstädte zu großen teilen zumindest teilweise landwirtschaft betrieben. die bevölkerung wanderte in den niedergangsphasen des bergbaus nicht ab, das erzgebirge blieb eine dicht besiedelte region, auch wenn wie im falle annabergs oder joachimsthals gewisse bevölkerungsspitzen nie mehr oder erst im laufe der letzten einhundertfünfzig jahre wieder erreicht wurden. es lebten seit der massenhaften zuwanderung im zuge des spätmittelalterlichen berggeschreis ab 1477 stets mehr menschen im gebirge, als von der dortigen landwirtschaft ernährt werden konnten; während der gesamten frühen neuzeit mussten nahrungsmittel in beträchtlichem umfang eingeführt werden – was bei missernten in den erzeugergebieten häufig zu hungerkrisen im erzgebirge führte, insbesondere zu beginn des 18. jahrhunderts und nochmals anfang der 1770er jahre.

trotz der zeitweise sprichwörtlichen armut der gebirgsbevölkerung gab es aber offensichtlich ein hohes maß an innovationspotential. es stellt sich daher die frage, welchen einfluss die frühe form des kapitalismus mit ihren rationalisierungselemten und ihrem anpassungs-und innovationsdruck darauf hatte. daneben scheint das selbst für kursachsen ungewöhnlich dichten niederen schulwesen beträchtliche auswirkungen auf die fähigkeit der bevölkerung vor ort gehabt zu haben, mit wirtschafts- und erwerbskrisen umzugehen.

den nukleus für all diese entwicklungen bildet jedoch die erste hälfte des 16. jahrhunderts – und dort sind insbesondere figuren wie adam ries in den blick zu nehmen, die entweder jenseits eines streng und eng philologisch orientierten humanismus standen oder die, wie etwa, nomen est omen: georgius agricola, zwar humanistisch gesinnt und geprägt waren, aber ihren geist offen hielten für die realien von ökonomie und montanwesen, deren fragen und probleme ihnen in den bergstädten vor augen standen.

anders ausgedrückt wäre zu fragen, inwiefern der humanismus im erzgebirge oder besser die humanisten im erzgebirge durch ihr umfeld und ihre tätigkeit (adam ries als „bergmann von der feder“; georgius agricola als stadtarzt in joachimsthals, der sich bergleuten gegenüber sah, die von der so genannten „joachimsthaler“ oder „schneeberger krankheit“ befallen waren) zur auseinandersetzung mit themen angehalten oder nachgerade gezwungen waren, die wenig, ja gar nichts mit der philologisch inspirierten und teils theologisch begründeten hinwendung zu den texten der antike gemein hatten – sondern schlicht gänzlich neuen typs waren.

ganz abgesehen von diesen historiografischen erörterungen, erinnerte ich mich an die imaginationen, die mir während meines jüngsten besuchs im adam-ries-museum in den sinn gekommen waren – als ich etwa vom kauf des hauses in der annaberger altstadt oder vom späteren erwerb der so genannten riesenburg2 las: adam ries heiratet, gründet einen hausstand und wird bürger sankt annabergs …

ich fragte mich, wie ein historischer roman oder, genauer gesagt: wie die fiktionalisierung eines historischen stoffes aussehen müsste, um auf der höhe der zeit zu sein. wie sieht ein postmoderner historischer roman aus – wenn das nicht ein widerspurch in sich selbst ist. was heißt überhaupt historischer roman? kann man texte wie etwa thomas manns josefsroman, alfred döblins wallenstein, christa wolfs kassandra oder martin walsers goetheroman überhaupt mit dieser kategorie fassen? mir fehlt ein germanistisch-literaturwissenschaftlich versierter gesprächspartner, mit dem ich solcherlei fragen erörtern kann, unbefangen erörtern kann. aber man muss immer vorgeben, klüger und belesener zu sein, als man tatsächlich ist. es ist ein kreuz: die eigene eitelkeit steht dem erkenntnisdrang im weg.

bei historischen stoffen ist es nur offensichtlicher, aber im kern besteht mein problem beim fiktionalisieren in dem umstand, sich zu einer erzählhaltung aufraffen zu müssen, von der man einerseits ganz genau weiß, dass sie keinerlei berechtigung hat, deren erzählung man aber selbst in der erwartung und annahme liest, die erzählende instanz sei legitimiert zur erzeugung einer fiktion. ich kann kein szenario entwickeln, das in sich geschlossen und widerspruchsfrei ist, das eine welt aufscheinen lässt mit einer geste, als sei es die wirklichkeit. da stehen mir einerseits meine, hoch gesprochen: erkenntnistheoretische überzeugung und andererseits mein pädagogisch-aufklärerischer impetus im weg, nach kräften beizutragen zur, noch einmal hoch gesprochen: dekonstruktion von mythen. eine fiktion, die ihren charakter als fiktion verschleiert, so dass man meint, so sei es, oder im falle von historischen stoffen, so sei es einst gewesen, hemmt eher die aufklärung als sie zu fördern.

die ästhetische herausforderung besteht darin, eine fiktion zu kreieren (sic!), die sich einerseits sozusagen ihrer fiktionalität bewusst ist, ihres spielcharakters („so tun als ob“), die also gebrochen und widersprüchlich ist – und die andererseits trotzdem lesbar bleibt, sodass das drama, das ihr innewohnt, für den leser greifbar bleibt. wie verkleidet man so eine intellektuelle pirouette in einer – geschichte? eingedenk thomas bernhards geht es um die reduktion auf innere vorgänge – die seitenweite beschreibung der beschaffenheit eines vorgartens ist unerheblich. das tendiert zu einer auflösung der fiktion hin zum essay, wo allenfalls noch mit ein paar wenigen strichen wie bei einer tuschezeichnung eine welt angedeutet wird, während aber schon das papier durchscheint und die fiktion deutlich wird. die andere möglichkeit besteht darin, die fiktion derart fabel-haft auszumalen, dass sie sich durch diese übertreibung ent-larvt. reduktion oder übertreibung, vielleicht bestenfalls noch eine mischung aus beidem, um den spielcharakter noch stärker herauszustreichen – mehr grundsätzliche alternativen scheinen mir nicht zu bestehen.

1 hans wußing, adam ries, 3., bearbeitete und erweiterte auflage, leipzig 2009; friedrich naumann, die historische entwicklung des erzgebirgischen bergbaus und adam ries als ‚bergmann von der feder‘, in: jürgen kiefer/karin reich (hrsg.), gemeinnützige mathematik. adam ries und seine folgen, erfurt 2003, s. 55-88. – soweit ich es bislang überblicke, gibt es keine biografische monographie, die den ansprüchen der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen forschung genügen würde; was vorliegt, sind entweder untersuchungen im geiste der historiografie des 19. jahrhunderts oder enggeführte detailstudien wirtschafts- oder mathematikgeschichtlicher natur. es fehlt eine darstellung des rechenmeisters, die ihn, um mit hartmut zwahr zu reden, als figur in den strukturen ihrer zeit in den blick nimmt.

2 beim stichwort „riesenburg“, ja selbst wenn ich an dem gehöft zuweilen vorüberfahre, erinnere ich mich, wie mein großvater, sechzig, siebzig jahre nachdem er sie gelernt hatte, chamissos ballade vom riesenspielzeug vollständig zitierte (was eben „vollständig“ so alles einschließt – gewiss): burg niedeck ist im elsaß der sage wohlbekannt, / die höhe, wo vor zeiten die burg der riesen stand; / … – als ich sie eben noch einmal komplett las, bemerkte ich, wie passend sie zur blut-und-boden-rhetorik im dritten reich passte: die bauern („der nährstand“) ernährt die riesen, die ihrerseits vom dem bauernstand herstammen – schade nur, dass der autor selber ein welscher ist, dessen familie vor der revolution ins behaglich-konservative preußen floh und der erst dort die sprache lernte, in der er fortan schrieb und reimte.

Veröffentlicht unter bildung, erzgebirge, historiografie, ideen | Schreib einen Kommentar

die ankündigung eines bergbau-unternehmens, in der lausitz nach kupfer schürfen zu wollen, nimmt richard kämmerlings zum anlass, über den bergbau als „identitätsstiftenden mythos“ der ddr nachzudenken.1 die hinwendung zum kumpel schien mir bislang aus derselben motivation heraus vollzogen worden zu sein, aus der heraus auch (allenthalben missglückte) poeme über den (genossenschafts-) bauern mehr fabriziert als geschrieben wurden, aber wenn man es einmal so betrachtet, spricht einiges für diese perspektive. allerdings war die bauern-metapher schon durch die andere diktatur besetzt. andererseits waren die motive aus dem bergbau seit dem berggeschrei des fünfzehnten jahrhunderts in der bildenden kunst und der literatur auf eine ganz andere, weniger geschönte weise als das alteuropäische landleben mit der modernen auffassung von arbeit als individualisierter lohn-arbeit und zugleich als parabel für die existenz des neuzeitlichen subjekts, für die geworfenheit des menschen in zusammenhang gebracht worden („… wir hauen das gesteine los / bei licht in steter nacht. // glückauf! ist unser losungswort / im düstern gang und schacht. / wir sitzen mit gefahr vor ort, / …“). die bergbau-metapher war insofern schon vorgeprägt: man betrachte etwa den annaberger bergaltar oder verfolge die schilderungen in novalis‘ heinrich von ofterdingen („der ist der herr der erde, / der ihre tiefe misst / …„).

der prototyp für den „aktivisten“ war der bergmann adolf hennecke – in anlehnung an den sowjetischen bergmann alexei stachanow. hennecke fuhr seine „leistungsschicht“ im lugauer karl-liebknecht-schacht, also am rande des erzgebirges mit seiner achthundertjährigen bergbau-tradition. vermutlich kein zufall, denn es hätte sich beispielsweise auch das mansfelder kupfer- oder das lausitzer braunkohlerevier angeboten, aber ein tagebau, wie im letzteren, passt nicht recht ins überkommene bild. – „ich bin bergmann. – wer ist mehr?„, war insofern eine (staats-)programatische devise.

es ist dabei nicht erst franz fühmann, der die bergmännische tätigkeit mit dem (geisteswissenschaftlichen) forschen vergleicht; die paralelle liegt womöglich sogar recht nahe: „heute, da ich dies schreibe, weiß ich, daß das bergwerk ein gutes modell für jeden prozeß eines eindringens in unbekannte bezirke ist; damals begann ich es zu erfahren, in jähen und jäh wieder innehaltenden schüben. man dringt da ein, wo etwas lockt, aber lockendes muss sich ja zuerst zeigen. es braucht dies nicht in einer gestalt zu geschehen, die sich sofort als nutzbringend dartut; es genügt, wenn ein geheimnis lockt, so steht etwa in einer belebten straße ein scheinbar unbewohntes haus da, mit seltsam öden und doch stets blanken fenstern, und das rätsel des dahinter – oder eine höhle im fels, eine spalte im erdreich, und das rätsel dahinter. (…)„.2 seine dissertation über den erzgebirgischen silberbergbau leitet christian meltzer mit der feststellung ein: „ist etwas, darmit das studiren artlich kan verglichen werden, so ist es gewiß das edele bergkwerck, eine alte ehrliche kunst und nahrung, eine sauere, doch aber unentbehrliche arbeit, die allenthalben unsäglichen nutzen schaffet. (…)3

1 richard kämmerlings, tiefenbohrung. der bergbau und die dichter, in: faz vom 09.04.10.

2 franz fühmann, im berg. texte aus dem nachlaß, hrsg. von ingrid prignitz, rostok 1991, s. 55.

3 christian meltzer, glück auff! de hermundurorum metallurgia argentaria. vom ertzgebürgischen silber-bergkwerck dissertatio, leipzig 1680, s. 2. – meltzer stammt aus wolkenstein, wird später pfarrer in buchholz und entwickelt dort eine umfassende chronikalische tätigkeit, so dass man ihn (wie andere gelehrte pfarrer aus dem erzgebirge auch, beispielsweise den scheibenberger christian lehmann) mit einigem fug und recht als einen ethnologen, volks- und landeskundler avant la lettre bezeichnen kann (vgl. stefan dornheim, das lutherische pfarrhaus und die anfänge heimat- und landeskundlicher forschung in sachsen (1550-1750), in: nasg 79 (2008), s. 137-159); der verteidigung der arbeit saß adam rechenberg vor, leipziger geschichts- und theologieprofessor, schwager von christian thomasius und schwiegersohn philipp jakob speners; rechenberg selbst stammt wiederum aus leubsdorf am fuße der augustusburg – die bezüge nehmen überhand, je tiefer man bohrt und gräbt, die stollen und schächte verzweigen und verflechten sich immer weiter: eine einzige klöppelei …

Veröffentlicht unter erzgebirge, literatur, poetik | Schreib einen Kommentar

erst nach dem ende der schnee- und eiszeit (winter) kann man die schäden für die graswurzeln durch die tätigkeit der wühl-mäuse so recht überblicken.

Veröffentlicht unter ddr, demokratie, mitteleuropa | Schreib einen Kommentar

wenn ich an der ostfront der universitätskirchen-aula (wie nun auch immer …) vorbeikomme und die kühle eleganz des baus bestaune (der augustusplatz wird durch diese architektur erheblich, ja man möchte sagen: entscheidend aufgewertet), denke ich mir stets, das ganze poltern sei doch eigentlich unnötig gewesen.

Veröffentlicht unter leipzig | Schreib einen Kommentar