another brick in the wall ist die lücke, die der teufel lässt als chance in der krise … oder vom nutzen des schrumpfens.

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derlei hätte ich vor zehn, fünfzehn jahren einmal lesen müssen, eine anleitung zum tagebuch-schreiben. dies alles ist möglich und noch viel mehr, es gibt keine beschränkungen, außer jenen, die du im kopf hast. bedenkenlos alles aufschreiben zu können ohne rücksicht auf das urteil eines lesers, keine empörung im hinterkopf fürchten müssen und keine geringschätzung: (…) walsers tagebücher enthalten zu einem großen teil arbeitsnotizen. figuren werden entworfen, dialogische szenen, die auf seine theaterambitionen verweisen; manchmal gehen sie erkennbar aus bestimmten ereignissen hervor. der autor erfindet sich sein ich als kunstfigur. gelegentlich kommt es zu beiläufigen beobachtungen, werden bekannte charakterisiert, szenen und gespräche festgehalten, und dann und wann setzt sich der autor ungeschützt seinen aggressionen und konkurrenzgefühlen aus. immer aber stilisiert er sich durch das schreiben und entwirft die souveränität einer schriftsteller-haltung, die das erlebte sofort in einen fiktionalen kosmos einbaut. er setzt ein durchaus narzistisch genossenes dichter-ich gegen die kruden weltläufte. (…) abschließend wird der autor selbst zitiert: ich sollte brennende streichhölzer zum fenster hinauswerfen, das drückte mich am deutlichsten aus. (…)1 – in meinem fall wären es vermutlich eher kleine papierflieger (vermutlich ist das jedoch nur eine form von biederer jungpionierspoetik: papieflieger gleiten aus dem fenster in die welt und geben nachricht von einem leben in der bienenwabe). die offensichtliche eitelkeit sich selbst als autor aufzufassen, die einem bei der lektüre in den sinn kommt und die ich ohne einwände zugestehe, tritt bald hinter die befriedigung, die eigenen empfindungen und einfälle in einen text übersetzen zu können. schreiben gegen die zeit. schreiben gegen den schwund der erinnerung. schreiben als ausweis der eigenen existenz: scribo ergo sum – oder: in scriptura sum. papierflieger aus dem fenster.

1 helmut böttiger: jedes wort ein brennendes streichholz. das große wüten eines kleinbürgerlichen wirtshaussohnes aus wasserburg …, in: sz vom 16.03.10, s. v2/8.

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thomas steinfeld beschreibt in seiner besprechung der tagebücher von susan sontag den idealtypus eines intellektuellen: (…) es gibt intellektuelle in dieser welt, menschen, die sich prinzipiell kritisch ihrer umgebung gegenüber verhalten, mit einer analytischen distanz, die leicht und schnell in ablehnung übergeht – und das tun sie, während sie doch in und mit und von dieser umgebung leben. mehr noch: in dieser welt existieren junge, sehr junge menschen, die mit kaltem kopf ihre fähigkeiten und möglichkeiten bedenken und sich daraufhin entschließen, genau solche intellektuelle zu werden. die dann hingehen, als heranwachsende noch, und sich, mit dem stets ein wenig altklug wirkenden pathos der selbsterzieher, vorstellen, welchen preis sie dafür zu entrichten haben: radikale zweifel, geistige marter, lossagung von familie und kindheitsidolen, kurz, die gesamten selbstopfer einer ins intellektuelle übertragenen nachfolge christi. (…) und er fährt weiter unten mit einer diagnose fort: (…) es gibt gegenwärtig keine solchen intellektuellen, falls es überhaupt welche gibt: menschen, die ihre ganze geistige kraft dahineinlegen, gesellschaftliche widersprüche, reibungen, konflikte zu erkennen, ihnen auf den grund zu gehen und ihnen eine figur zu verleihen, mit der alle umgehen können. es gibt diesen willen nach totalem geistigen nachvollzug der gegenwart nicht. an seine stelle ist das moralisieren getreten, die ebenso einfältigen wie selbstgefälligen versuche, die welt an den idealen zu messen, die sie von sich selber hegt – um daraufhin in wohlfeile klage auszubrechen, dass die ideale nicht erfüllt werden. (…)1

die frage lautet, ob man sich wirklich entscheiden kann, so mirnichts, dirnichts: ich will ein intellektueller werden, ein dichter, ein gelehrter, …? kann man sich vor den spiegel stellen und während man sich rasiert mantraartig wiederholen: ich kann, ich will und ich werde professor werden? geht das so einfach oder sind das lediglich retrospektive erzählungen zur biografischen stabilisierung der eigenen identität? vielleicht ist auch der fall denkbar, dass einer von der eigenen bedeutung so sehr erfüllt ist, dass er einen so starken drang zur äußerung empfindet – und doch an der begrenzung und vor allem begrenztheit der eigenen möglichkeiten scheitert: jemand, der als intellektueller losspringt in einem kühnen entwurf von sich selbst – und kläglich nach kurzem flug im schlamm landet und endet, bestenfalls als klein-intellektueller. aus dem erzgebirge. der erzgebirgler (sic) als intellektueller kann vermutlich nur so ein klein-intellektueller sein, ein geistiger bettvorleger: johannes mario statt georg simmel.

ich schweife in meine vergangenheit und prüfe mich: ich muss gestehen, dass ich solche vorstellungen meiner zukunft hatte, solcherlei anwandlungen, weniger ausdrücklich geäußert als vielmehr verborgen im herzen getragen mit dem gefühl, etwas besonderes besseres und den üblichen regeln des lebenslaufs deshalb nicht unterworfen zu sein. ich versuchte, eine distanz zu meiner gegenwart zu gewinnen und ein kritisches verhältnis zu ihr wie zu mir selbst und meiner kritischen haltung zu entwickeln. aber mir mangelte es allezeit (und mangelt es noch) an genügend selbst-disziplin (und dahinter vermutlich an genügend leidenschaft und selbst-gewissheit). wer kann, der tut, heißt es, aber noch zutreffender ist wohl: wer muss, der kann. insofern fehlt mir offensichtlich nicht allein die fähigkeit, sondern vor allem das zwingende momentum, das keine ruhe lässt, der stachel im fleisch. ich gebe allenfalls vor, mir brennte es unter den nägeln und auf der haut, ich heuchle es und rede es mir ein, so dass ich zuletzt oder zuerst selbst daran glaube, ohne dass sich freilich eine leidenschaft, eine passion einstellte. es liegt an mir, an mir, an mir: ein dürrer acker bringt keine frucht, ein dürrer berg birgt kein erz, früher oder später muss man sich die eigene mittelmäßigkeit eingestehen. und dabei ist es gar nichts nütze, die schuld daran in den schlechten umständen zu suchen, in fehlenden geistern, die hätten zuraten und bestätigen können, aufmuntern und antreiben. ich war immer ganz allein mit den büchern und den einfällen, die sie mir verschafften und nie weiß ich, ob sie einfältig sind – oder kühn. aus einer solchen unsicherheit entstehen keine texte, sondern allenfalls grübelndes geraune, das um sich selber kreist.

kann man mit sechzig jahren voller erziehung zu misstrauen, furcht, kleingeisterei, … im rücken überhaut so einen sprung ernsthaft wagen? zumal es hinter dem horizont von neunzehnhundertdreiundreißig nicht besser aussieht, der schritt aus der vormoderne hatte für den gemeinen mann aus dem erzgebirge oder der niederlausitz gerade erst begonnen. nur dass im unterschied zu andern teilen der welt, weiter westlich gelegenen teilen nicht einmal lediglich sechzig jahre stillstand und entwicklungsverzögerung eintraten, sondern ganz im gegenteil unser mann mit allen mitteln, die dem mächtigen staat des letzten jahrhunderts zur verfügung standen, zu einem immer kleineren und elenderen menschen gemacht wurde, der keinem mehr vertraut, nicht einmal sich selber, der nichts mehr wagt und unternimmt, nicht einmal einen schritt vor die tür des hauses, das ihm genommen wurde, der sich vor allem und jedem fürchtet, sogar vor den eigenen gedanken, so dass es ihm niemals in den sinn käme, sie zu äußern und im widerstreit zu verteidigen. der lange weg nach westen scheint mir nicht abgeschlossen, sondern gerade erst begonnen. tragisch daran ist allein, dass der westen voll ist, überall springt jemand aus dem verborgenen auf und ruft in der manier des igels, er sei schon längst da und alles schon gedacht, gesagt, getan. als armer, gehetzter hase kann man nur in der mitte des feldes, auf halbem wege zum nirgendwo, zusammensinken, verzweifeln und sich vergraben, die kleider zerreißen und asche zum himmel aufs eigene haupt werfen. da kauert es in der furche, das häslein, im schützengraben, das menschlein, und sein herz schlägt so geschwind, dass es bald zu bersten scheint, unendlich geschwinder als dasjenige des selbst-bewussten liebenden im elsass. mein geist ist zerbrochen, meine tage sind ausgelöscht; das grab ist da. meine tage sind vergangen; zerrissen sind meine pläne, die mein herz besessen haben. was ist meine kraft, dass ich ausharren könnte; und welches ende wartet auf mich, daß ich geduldig sein sollte? ist doch meine kraft nicht aus stein und mein fleisch nicht aus erz – möchte man mit dem hasen und dem hiob klagen in einem fort.

aber vielleicht ist es auch der falsche an-satz, der falsche blick-winkel auf sich selbst und das, was man zu tun imstande ist: vielleicht geht es weniger darum, was man ist oder sein möchte, sein kann, sein soll – als vielmehr schlicht darum, den beschädigungen der eigenen seele nachzuspüren und der schuld, die aus früheren zeiten heraufdrängt. zeugenschaft der eigenen gegenwart, was immer meint: der jeweils eigenen wahrnehmung der gegenwart, ihrer schulden aus der vergangenheit und ihrer hypotheken auf die zukunft. zwei prinzipien, wenn man so will, bestimmen mein sinnen seit gut anderthalb jahrzehnten: das streben nach souveränität im denken, urteilen, handeln, und nach wahrhaftigkeit. wer will einem dabei schon am zeug flicken – und tut es dennoch einer, kann man sich mit fug und recht wehren, denn der kampf gilt nicht dem anderen in erster linie, sondern den eigenen ängsten und der eigenen unaufrichtigkeit. was auf den ersten blick als ein sehr individuelles, um nicht zu sagen: selbstsüchtiges unterfangen anmutet, erweist sich beim weiteren überdenken als das ganze gegenteil, denn die ängste, mit denen man ringt, teilt man mit den anderen, die einen umgeben, wie auch die illusionen, an denen man sich wie alle andern zu beruhigen sucht vor der überwältigenden wirklichkeit. ich bin so beschränkt in geistigen dingen wie alle andern auch und so furchtsam gegenüber der welt wie sie. indem man aber zuerst und vor allem mit sich selber ringt anstatt aus einem vermeintlichen gefühl der intellektuellen und moralischen überlegenheit mit den anderen, überwindet man, womöglich, die flachheit des moralisierens und erreicht, womöglich, so etwas wie … glaubwürdige ernsthaftigkeit.

wie entgeht man dem moralisieren? vielleicht indem man zum einen nicht vorgibt, es besser zu wissen als man es tatsächlich tut, und zum andern indem man den aussichtslosen versuch unterlässt, die ambivalenzen der gegenwart in einem einfachen moralischen schema aufzulösen, und statt dessen selbst einen anfang setzt.

1 thomas steinfeld, nicht lächeln, nicht verbindlich sein. als die amerikanische essayistin susan sontag 2004 starb, hinterließ sie über hundert tagebücher …, in: sz vom 16.03.10, s. v2/5. – susan sontag, wiedergeboren. tagebücher 1947-1963, mnch. 2010.

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beim jüngsten comenius-forum in annaberg trat stanislaw tillich auf und sprach zu „den werten für staat und zivilgesellschaft in sachsen“, wobei er die vielfalt der lebensweisen in der gegenwärtigen gesellschaft thematisiert habe. „trotzdem gibt es drei grundwerte: freiheit, gleichheit, brüderlichkeit“. – irgendjemand übersetzte unlängst den schwammigen begriff der „brüderlichkeit“ versuchsweise einmal mit solidarität. aber alles in allem reibt man sich schon ein wenig verwundert die augen: tillich redet von pluralismus, zivilgesellschaft und den werten, die beidem zugrunde liegen. die schlagworte der französischen revolution bleiben: schlag-worte, phrasen, hüllen. man merkt den ingenieur, der keine vorstellung von der bedeutung dessen hat, worüber er spricht, denn die affäre um verkaufte termine mit dem ministerpräsidenten und landesparteichef belegen, wie sehr das staatsverständnis der sozialistischen diktatur bei den sächsischen funktionseliten nach wie vor prägend ist. da redet der blinde von der farbe; aber keiner tritt auf und sagt, der kaiser sei doch nackt.1 das bedauerliche daran ist zum einen die kontinuität der provinziellen mentalität ostdeutschlands weit über die wende hinaus, zum andern aber die tatsache, dass sich diese art von denk- und verhaltensweise durch den druck der globalisierung mit seiner rückkehr des regionalen („glokalisierung“, nennt das manch ein ethnologe) und durch die selbstreproduktions-mechanismen von eliten eher noch verschärfen wird. wer eine andere auffassung von konservatismus hat, eine andere vorstellung von „sachsen“, wird es zunehmend schwerer haben, gehört zu werden, geschweige denn gestalten zu können, wenn er nicht ganz und gar marginalisiert wird, so dass er sich resigniert in eine nische zurückzieht oder abwandert. die leidenschaft für eine bestimmte weltprovinz (etwa „mitteldeutschland in mitteleuropa“) bedeutet dabei freilich nicht notwendigerweise einen verzicht auf einen weiten horizont. provinz muss nicht provinzialismus nach sich ziehen; mit dem schlagwort der „welt im dorf“ ließe sich auch die verknüpfung von kosmopolitismus und regionalismus denken („da mal nachhaken …“, könnte man mit kempowski reden).

„sichuan“ etwa oder „nanking“ sind hervorgehobene, aufgeladene orte auf der karte in meinem kopf; kaum fällt mein blick auf eines dieser schriftbilder, tauchen bilder und vorstellungen auf von uralten chinesischen gelehrten in weißen gewändern, die aus zarten porzellanschalen grünen tee trinken und tuschezeichnungen anfertigen oder gedichte schreiben.

bei aller überzeugung von der befreienden stärke der beschreibbarkeit der welt vermittels der sprache bleiben zweifel und unbehagen angesichts der unüberwindbaren vermittlungschwelle zwischen mir und dem nächsten individuum.2 hoffmannsthals brief an lord chandos. hat rilke am ende doch recht, wenn er einschränkend feststellt: „wo man etwas sagbar macht, da nimmt auch schon das unsägliche dahinter maßlos zu.“ wobei zu fragen wäre, ob das, was man nicht sagen kann (und von dem man deshalb nach wittgenstein schweigen muss), tatsächlich das unsägliche ist.3

1 vgl. chemnitzer freie presse vom 10.03.10, annaberger ausgabe. – ich bemühe mich, jeden in seiner art gelten zu lassen und mich mit meinem vermeintlichen besseren wissen zurückzuhalten, aber zu dieser art achtung vor dem andern und seiner abweichenden meinung gehört der eindruck, dass er es ernst meint – und ich kann mich hier nicht des eindrucks der floskelhaftigkeit erwehren. gewiss, zugegeben, ich verwende vermutlich auch weitaus mehr inhaltsarme phrasen, als ich mir bewusst bin, aber ich hoffe doch, mein bestreben nach authentizität ist zu erkennen. – grundsätzlich bleibt die frage: soll man sich zu tagespolitischen themen äußern? mir scheint dabei zum einen die gefahr einer ständigen kurzatmigkeit gegeben zu sein und zum anderen die stete versuchung der intellektuellen besserwisserei (auch ich ein blinder, der von der farbe redet …). ganz davon abgesehen bin ich beherrscht von der konfliktscheu des ostdeutschen und seiner furcht, die eigene meinung zu äußern – und statt dessen lieber versucht, nichts zu sagen oder zustimmung zu heucheln. aber das ist vermutlich auch nur eine stilisierung eigener befindlichkeiten zu einem feldzug für die zivilgesellschaft … im hinterkopf ist außerdem die selbstkritische frage, ob ich überhaupt eine meinung habe (der innenohrwenzel verkleidet sich als helmut schmidt und grummelt: „dummes zeuch!“).

2 ich weiß selber, dass es sich hierbei um einen unmöglichen satz handelt. phrasen statt verben. und du willst ein stilist sein, fragt der innenohr-wenzel und winkt ab. – meine neigung zur schwere und länge von sätzen, die keiner durchschaut und begreift, ich selbst nicht einmal. ach gib’s doch auf, zitiert der wenzel den bruder eugen rapps (oder war’s der schwager, aber das ist auch schon einerlei). siehe etwa: hermann lenz, seltsamer abschied.

3 hier kommt sich einer verdammt schlau und reflexiv vor: hoffmannsthal, rilke, wittgenstein – da wird mit pfunden gewuchert, die er nicht besitzt, ja nicht einmal zu überschauen vermag. inszenierung von intellektualität. performative intelligenz oder: so tun als ob (man schlau wäre). fragt sich nur, was besser ist: ob man es selber glaubt oder gerade als einziger nicht. – manchmal möchte ich mich vor scham und zorn über mich selber in einem fort geißeln oder mir stückchenweise das fleisch vom gebein trennen, bis nichts mehr übrig ist wie in einer chinesischen foltermethode (mo yan: die sandelholzstrafe).

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„ich glaube, dass kultur immer schon etwas vermischtes gewesen ist“, sagt ein migrationsforscher im radio.1 – kultur ist immer vermischt, gewachsen, stückwerk. es gibt keine kultur aus einem guss. dass man den eindruck hat, es sei dennoch so, vor allem im fall der eigenen, liegt daran, dass man sie als ein überwältigendes phänomen vorfindet oder vielmehr im laufe seiner eigenen bewusst-werdung in sie hineinwächst. wo man auch hinsieht, selbst in den feinsten, kleinsten winkel hin hat sie sich ausgedehnt und jedes detail scheint sowohl mit dem ganzen als auch mit jedem andern verbunden zu sein. so schwer wie die evolution der unbelebten und belebten natur zu begreifen ist, so schwer, vielleicht sogar noch schwerer, verhält es sich bei der kultur, der sozusagen zweiten natur des menschen, die zwar nicht natürlich ist, aber überindividuell, ähnlich stark beeinflussend und ähnlich schwer beeinflussbar. soziologie ist zumeist viel zu gegenwartsfixiert, geschichtswissenschaft blendet vor lauter objektivierungswahn die gegenwart und damit den standort des geschichtsschreibers zumeist ganz und gar aus. mein ideal bleibt die verknüpfung von beidem in der tiefen beschreibung – um zu ergründen, wer ich bin, muss ich wissen, was mich umgibt und beeinflusst, prägt, formt, um zu wissen, was mich umgibt, muss ich ergründen, wie es geworden ist. ein bild für diese tiefe beschreibung wäre der wurzelstock einer fichte: zum einen der querschnitt, an dem man einen bestimmten zustand dieses baumes ablesen kann (das soziologische bzw. ethnologische moment); zum andern die weit- und vielverzweigten wurzeln (die historische tiefendimension). sozusagen: das poetische prinzip einer fichte. wenn man es schon mit einer schriftkultur zu tun hat und gewissermaßen sonden in die vergangenheit schicken kann, sollte man es auch tun; das bild kann nur differenzierter werden, was heißen soll: weniger grob. – von johann gottfried herder, den manche als stammvater der ethnologie betrachten, gibt es für die beschreibung von kultur(en) das bild der schwankenden oder beweglichen horizonte aus dem schwankenden oder beweglichen blickwinkel eines schiffes auf dem meer. damit hat er vor allem die perspektivität des beschreibenden im sinn, aber es macht auch sensibel für die stete unstetigkeit von kultur. nicht nur der blickwinkel, auch der zeitpunkt der beobachtung beeinflusst die beschreibung. – aber das sind allesamt nur binsenweisheiten, eine krude collagierung von angelesenem und aufgeschnapptem. nur: was kann man mehr?

1„odyssee europa“ – mark terkessidis über homer und irrfahrten heute, dlf vom 28.02.10, 17.06-17.30 uhr; vgl. http://www.dradio.de/aodflash/player.php?station=1&broadcast=277851&playtime=1267373208&fileid=567f3a70&/ (28.02.10).

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winterreise: drei sonnen seh ich am himmel stehen …

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ziel sei es, das erzgebirge künftig in eine internationale musiklandschaft zu verwandeln, lassen die veranstalter des „musikfests erzgebirge“ verlautbaren. – an der grenze zwischen dem lutherischen sachsen und dem katholischen böhmen gelegen, an der route, die ostsee und adria verband (verbindet) und auf diesem weg über prag und wien mitteldeutschland an italien anschloß  (heinrich schütz in venedig, georg friedrich händel in venedig, florenz, rom und neapel) – damit ist das erzgebirge eine internationale musiklandschaft. wie in vielen anderen bereichen, muss man die spuren nur wieder ans licht fördern und zum klingen bringen. man denke nur an den schlackenwerther johann caspar fischer oder an den scheibenberger georg melchior hofmann (vgl.: http://www.musikfest-erzgebirge.de/; letzter zugriff: 13.01.10.)

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es ist neuerdings, zumindest beobachte ich das, immer häufiger von „milliardenprojekten“ die rede: da sollen riesige solarkraftwerke in der sahara errichtet werden, die sowohl europa als auch nordafrika mit nachhaltiger energie versorgen (wobei dort zugleich die soziale und wirtschaftliche entwicklung vorangetrieben und der terrorismus bekämpft werden sollen), da soll ein internationales energieverbundnetz in europa entstehen, mit dem britische windparks, norwegische wasser- und belgische gezeitenkraftwerke miteinander verknüpft werden sollen. einhundert milliarden, dreißig milliarden – was ist der unterschied zwischen einem projekt und einem milliardenprojekt? ist die steigerung des projektemachers der milliardenprojektemacher? was ist eine milliarde – euro, dollar, renminbi, gulden, taler, dukaten, … es scheint, als gänge der inflation des geldwertes die inflation der projekte voraus. (vgl. etwa markus basler: strom aus der nordsee für europa …, in: sz vom 05.01.10, s. 17.)

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eine nachricht aus somalia, „radikale islamisten“ hätten eine stadt erobert. zunächst klingt das ganz nach frontberichterstattung, man denke sich dazu eine fanfarenmusik. was aber ist ein „radikaler islamist“ im unterschied etwa zum „moderaten islamisten“, den es der logik der bezeichnung nach auch geben müsste? ein wenig gottesstaat kann es nicht geben, entweder zuletzt ganz und gar und global – oder gar nicht. was ist „moderat“ an dem wunsch, einen solchen staat weltumspannend zu errichten, in dem die scharia gilt, was wäre weniger „radikal“? – gewiss: ich übertreibe und habe auch keinen wirklichen einblick in die befindlichkeiten von so genannten „islamisten“. ist die bezeichnung des „radikalen islamisten“ nur ein pleonasmus, um etwa dem unbekümmerten mitteleuropäischen zuhörer die gefährlichkeit der gotteskrieger vor augen zu führen – oder handelt es sich nur um eine dumme tautologie?

um ins schreiben zu kommen, suchte ich einen tagebuchband von ernst jünger heraus und blätterte darin herum. ich stieß auf eine beobachtung von ihm auf dem wilfinger friedhof: die grabplatten der zwillinge sebastian und fabian knoll, die am 20. januar 1803 geboren wurden. (man beachte die tradition der namensgebung nach den jeweiligen tagesheiligen.) der eine wurde österreichischer offizier und starb 1904, der andere trat in preußische dienst und verschied schon zehn jahre vor seinem bruder. trotzdem zwei ungewöhnlich lange leben für das 19. jahrhundert. die vielfältigen wandel, die sich in diesem säkulum (so würde vermutlich jünger formulieren) vollzogen oder zu vollziehen begannen, müssen beide bewusst miterlebt haben. den gipfel der macht napoleons und die (so genannten) befreiungskriege waren vermutlich der beginn ihrer erinnerungen, vormärz mit sehnsucht nach liberalismus, demokratie und nationalismus, zudem industrialisierung und technischer fortschritt, schließlich das auseinanderfallen des deutschen bundes und die kleindeutsche lösung der nationalen frage durch preußen, zuletzt, zumindest bei sebastian knoll, demjenigen, der länger lebte, das heraufdämmern der europäischen krise, die das 19., sein jahrhundert beendete und mit dem ersten weltkrieg das 20. einleitete. eine spannende doppelbiografie. (vgl. ernst jünger, siebzig verweht. bd. 1, dritte auflage, stuttgart 1995, s. 281f.)

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