das letzte konzil der universität leipzig tagte. das rektorat legte seinen arbeitsbericht des vergangenen jahres vor, aber was heißt schon arbeitsbericht. planungen, vorhaben, was zu tun ist. in der fragerunde danach die alten fragen. wie ein spiel, das lange eingeübt wurde. ritualisierte demokratie. der verlust der demokratie durch die abschaffung des konzils wird allenthalben beklagt, aber die wichtigen fragen stellt niemand. es soll keiner verurteilt und geschmäht werden, aber man muss doch sagen, dass mit der überstürzt und nicht gerade bedacht umgesetzten einführung der neuen studiengänge ein paar studierendengenerationen ja: verheizt werden. von solchen „stalingradgeschichten“ solle man nicht reden, heißt es dann in der replik. offensichtlich ist das konzil nicht notwendig, denn niemand spricht aus, was eigentlich alle denken. aber er hat ja gar nichts an! stellen sich die verantwortungsträger der kritik, besuchen sie die fakultäten, instituten und die studierendenschaft? zu einem leitungsamt gehört auch die bereitschaft, sich kritik anhören zu lassen. damit fühlen sich sich die kritiker ernstgenommen und eingebunden und gleichzeitig bietet die kritik eine empirische basis für weitere gespräche. niemandem fällt ein zacken aus der krone, wenn die massiven probleme mit den neuen studiengängen zugegeben werden, ganz im gegenteil, es ziert und ehrt. universität kommt von universitas, das heißt alle angehörigen und mitglieder sind universität, weil universitas. eine verbesserung, die bitter nötig ist, erreicht man am besten zusammen. das kann man organisieren, wenn man will, aber was kümmern einen etatisierten c-vier-professor schon die nöte eines bachelorstudierenden im zweiten semester, der statt einem modul, das er sich mit bedacht für seine weitere akademische ausbildung ausgesucht hat, irgendeine innerasiatische sprache lernen muss, weil nur noch in dieser lehrveranstaltung plätze frei waren (nichts gegen den wert, eine innerasiatische sprache zu lernen, wohlgemerkt). zweifelsohne kümmert es eine ganze reihe von professoren, aber man bemerkt recht wenig davon. keiner wagt sich aus seiner deckung. kommt nicht professor von bekennen? – wer soll da nicht à la longue zynisch werden. das steht zu befürchten, aber einer ausbildungsstätte mit dem anspruch und der tradition wie einer universität nicht recht zu gesicht. – aber ich junger freund sehe das ja alles zu idealistisch.

aber die reise ins unendlich kleine des menschlichen gehirns kann auch zu ganz anderen erkenntnissen führen. sie kann uns zeigen, dass der mensch ein soziales wesen ist. dass nicht nur seine gedanken, sondern auch seine gefühle viel weniger festgelegt sind, als die genetiker es kürzlich noch postulierten. die avancierteste technik, mit der wir in einzelne gehirn schauen, bestätigt den ganzheitlichen blick, ja sogar die poetischen visionen der mystik und die anstrengenden postulate des existenzialismus: dass geist und körper, mensch und welt ein unteilbares ganzes sind. dass der einzelne mensch immer nur so frei ist, wie die gesellschaft, in der er lebt. dass wir unser gehirn nur verstehen in dem maße, in dem wir die welt begreifen und unsere seele nur beschreiben können, wenn wir von der welt erzählen. (aus einer programmankündigung des dlf: www.dradio.de/dlf/programmtipp/dossier/861289/ [18.11.08])

eben: von der welt erzählen, um sie und sich zu begreifen.

Veröffentlicht unter anthropologie, demokratie, poetik, universität | Schreib einen Kommentar

ich saß an meinem nebenschreibtisch vorm heizkörper und schrieb vor mich hin, ob es gelungene sätze wurden oder weniger gelungene, weiß ich nicht, aber als ich aufsah, ging es auf vier zu. ich erinnerte mich an andruchowytschs worte über stasiuk und dachte zugleich: je stärker du die zeit vergisst beim notieren, desto besser sind die notate. was natürlich nichts heißen muss.

(…) wenn außenseiter unter sich sind, neigen selbst sie zur langeweile. und wirklich groß sind wohl nur die, die sich selbst fremd bleiben. (georg diez, gefahren des idealismus. joan didion stört die obama-party der „ny review of books“, in: sz vom 17.11.08, s. 13.)

ich sah zum ersten mal am tag auf die uhr und das display zeigte an: 11.13 – man liest nur in der welt, was man in sich trägt. insofern hat belsazar tief im innern gewusst, dass babylon fallen würde. die schrift an der wand ist der verdrängte gedanke aus dem kopf. mene tekel upharsin.

heute vor 19 jahren, ein freitag, kalt, neblig, kein schnee, fuhr ich zum ersten mal in den westen. die überwindung des eisernen vorhangs, sozusagen. ich erinnere mich noch an die überfüllte autobahn richtung plauen und hof. – zum ersten mal ist mir dieses datum im jahreslauf bewusst. das hängt zweifelsohne mit der anlaufenden thematisierung des wendejahres in leipzig zusammen, vermutlich auch mit den eigenen reflexionen im umfeld des universitätsjubiläums. aber mir scheinen darüber hinaus noch tiefere gründe zu existieren: seit vielleicht einem jahr werde ich mir zunehmend sicher, was ich will und wer ich bin, klarheit breitet sich aus. das ist kein zwangsläufiger prozess, er kann jederzeit ab- und zusammenbrechen. es kommt auf die menschen an, mit denen man umgang hat. findet man bestätigung? geht es nur mir so?, fragt martin walser. für uns alleine gehen wir ein. es genügt nicht die kammer mit dem schreibtisch. man braucht auch menschen. das ist die wesentliche erfahrung, die ich gemacht habe. ich bin immer noch hin- und hergerissen zwischen kammer und kneipe, aber ich habe eingesehen, dass beides notwendig ist, sonst verkümmere ich.

zur etablierung eines nachhaltigen konsums ist (…) ein äußerst langer atem notwendig, da er insbesondere auf einem grundlegenden bewusstseinswandel in der studierendenschaft (…) aufbauen muss“ – heißt es in einem rechenschaftsbericht eines referenten im leipziger studentinnenrat. ich erinnere mich an aussagen, man müsste mit einer gleichstellungskampagne in die stadt hineinwirken, weil dort in dieser angelegenheit nichts geschähe, man verbesserte jeden tag ein stück die welt (ironie hörte ich darin nicht, wohlgemerkt). – mit erschütterung muss ich mich fragen, ob ich nicht im grunde genommen genauso überheblich und besserwisserisch bin: ihr habt es nur noch nicht verstanden, ich muss es euch erklären und euch notfalls dazu zwingen. – erkenne dich selbst, gnothi sauton!, stand über dem eingang zum apollon-heiligtum in delphi. ab-grün-de.

in der wahrnehmung manches vermeintlichen demokraten ist demokratie, wenn seine meinung eine mehrheit findet, die minderheiten haben sich zu fügen, es fand ja ein demokratischer entscheidungsfindungsprozess statt. wo aber abweichende meinungen die mehrheit erringen und man selber minderheit ist, wird gleich von „reaktion“ gesprochen und eine drohende faschistische diktatur an die wand gemalt. währet den anfängen usw. – eine recht autoritäre auffasung, will ich meinen. aber ich nazi und rechtskonservativer habe ja keine ahnung.

außerdem heißt es dann immer noch: in ihrem verhältnis zum neoliberalismus sollst du sie erkennen. (dass dabei der begriff „neoliberalismus“ ursprünglich etwas ganz anderes meinte, eher eine art soziale dämpfung der marktwirtschaft manchester prägung, ist entweder unbekannt oder wird als lapalie vom tisch gewischt). mantraartig wird wiederholt, demokratie sei eben nicht die effizienteste form der entscheidungsfindung. wo effizienz herrsche, sei demokratie nicht möglich. effizienzsteigerung heißt demokratieabbau. das bezweifle ich: zwar ist der meinungsbildungsprozess schneller, je weniger akteure eingebunden sind (man vergleiche einmal idealtypisch absolutismus, ständeherrschaften und demokratie), aber je weniger gruppen eingebunden sind, um so größer ist auch die gefahr, bestimmte risiken nicht wahrzunehmen, so dass die falsche entscheidung getroffen und (zu) lange daran festgehalten wird. nicht gerade effektiv, wie mir scheint. – überhaupt: hierarchie, verwaltung und bürokratie sind grundsätzlich böse. – was rege ich mich auf, was rege ich mich auf?

Veröffentlicht unter anthropologie, ddr, demokratie, poetik, universität | Schreib einen Kommentar

eine dokumentation über münchner 1968er. immer wieder ist die rede vom krieg, der die eltern der 68er prägte und verstummen ließ. war da nicht noch mehr? spricht jemand von auschwitz, treblinka, majdanek, spricht es irgendjemand aus? ist irgendwo die rede davon, was mit der gesellschaft dieses landes im vergangenen jahrhundert geschah?

man muss immer vorab noch einmal betonen: ich will nichts gleichsetzen. stellt jemand laut und vernehmlich die frage, was geschehen ist mit dieser gesellschaft, erst recht mit jenem teil, der auch noch eine zweite, zweifelsohne ganz anders geartete diktatur ertragen musste, konnte, wollte?

lautes brüllen reicht nicht aus, bei weitem nicht: vater, mutter was habt ihr getan, warum habt ihr nichts getan? so einfach ist es nicht.

man kann sich auch hinter der kerze verstecken, die man vor sich herträgt, und mit dem an- und wehklagen, das man mantra- und gebetsmühlenartig wiederholt, viele fragen übertönen. die leute sind nicht die andern, ich gehöre zu ihnen.

die leute, die schlecht über ausländer reden. die leute, die schwarz arbeiten. die leute, die lieber von der stütze leben als zu arbeiten. die leute, die energie verschwenden. die leute, die lieber argentinisches rindfleisch essen als kartoffeln und äpfel von nebenan. die leute, die den schrank voll haben von kleidungsstücken und schuhen, genäht und gefertigt von malaysierinnen, die keinen mindestlohn haben. die leute, die leute, die leute. ich gehöre dazu, immer gehöre ich zu ihnen.

die zeit, die ich länger im bett liege, um zu träumen, muss mein antipode eher aufstehen und länger arbeiten.

dieser autoritäre anspruch, allein zu wissen, was demokratie sei und wie geschichte aufzuarbeiten ist. autoritär im antiautoritären, intolerant in der toleranz, konform im inkonformen. man erkennt den neoliberalen finanzmarktkapitalisten nicht an den kurzen haaren und der krawatte.

als ich vor vielleicht anderthalb jahren auf dem lindenauer markt an der straßenbahnhaltestelle wartete, zwei lederne taschen in der hand, grummelte hinter mir jemand: … so schwer trägt der kapitalist.

marx an die uni! schreien und glauben, alles werde gut. – was weiß ich, was demokratie ist und wie man geschichte aufarbeitet.

wer an europa verzweifelt, sollte soldatenfriedhöfe besuchen (jean-claude juncker).

wie vermittelt man die aus krieg, gewalt und diktatur gewonnene primärerfahrung der weltkriegsgenerationen an diejenigen, die nicht mehr darunter zu leiden hatten. immerhin lebt in europa, sieht man einmal vom kalten krieg einerseits und von den balkankriegen in den neunziger jahren andererseits ab, mittlerweile die dritte, bald vierte generation, die krieg und gewalt nicht mehr persönlich in ihrer heimat erlebt hat, die nicht in uniformen oder lager gesteckt wurde, die nicht vertrieb und nicht vertrieben wurde – eine ganz und gar außergewöhnliche, exzeptionelle erscheinung, wie man nicht müde werden kann zu betonen.

die physik, chaostheorie, thermodynamik lehren, dass bereits energie notwendig, arbeit zu leisten ist, damit der gegebene, überkommene zustand sich nicht auflöst und zusammenbricht. die zivilisation ist nur ein sehr dünner überzug. wenn man nicht ständig aufpasst, stürzen wir alle ab und finden uns wieder hinter stacheldraht als bewachte oder bewacher, im schützengraben vor dieser oder jener stadt und früher oder später in der hölle, so oder so. ich bin nicht negativ.

ich gehe durch die stadt und frage mich, wer von denen, die mir begegnen, den widerstandsgeist aufbrächte, sich nicht verstricken zu lassen. wer würde es ablehnen, diese oder jene volksfeinde zu benennen, zu bewachen, zu … wer sagte: bis hierher und nicht weiter. wer sagte: nein. auch ich lehnte es wohl nicht ab, auch ich leistete keinen widerstand, nicht als wächter, nicht als bewachter. wie bewahrt man, wie entwickelt man renitenz? wie bleibt, wird man ein mensch? vielleicht ist das sehr dick aufgetragen, aber zuweilen ist pathos unumgänglich, manche dinge müssen dicker aufgetragen, lauter gesagt werden.

ein paar millionen klimaflüchtlinge in europa und ein weltweiter verteilungskampf um ressourcen, der so eine schärfe gewinnt, dass er nicht mehr mit den mechanismen des marktes, sondern mit der waffe geführt wird.

als mein großvater so alt war, wie ich zu dem zeitpunkt, als er starb, ein wenig älter als 26, das muss ungefähr weihnachten 1945 gewesen sein, hatte er die größten herausforderungen seines lebens hinter sich – mir stehen, scheint mir, die größten herausforderungen meines lebens erst noch bevor. damit ist keinesweg die verfolgung einer bürgerlichen karriere gemeint, mit ihren chancen und herausforderungen, die schwierig genug zu meistern sind.

es kann einem grausen, wenn man sich umsieht und darüber nachdenkt, was werden kann. zweifel bekommt man einmal mehr, ob es richtig ist, was man tut. es geht nicht um das gendern der sprache … ach.

wer an europa verzweifelt, sollte soldatenfriedhöfe besuchen. wer nicht weiß, was er kaufen soll, ein flüchtlingslager an europas mittelmeerküste. das ist keine linke oder grüne spinnerei, schon allein deshalb nicht, weil ich so manchem grünen und linken als neoliberales arschloch gelte, als rechtskonservativer und nazi …

ein feature über den „kuturfunktionär“ heute, darin zutreffende beobachtungen: man kommt montags morgen mit elan ins büro, nimmt sich vor, eine reihe wichtiger briefe zu schreiben und dann beginnt die erste sitzung, 13 uhr ist sie beendet, aber es geht so weiter die ganze woche durch, bis man sich am freitag nachmittag entsetzt fragt, warum man noch immer nicht die zeit fand für die briefe. – in manchen sitzungen notiere ich gedichte, wie sie mir in den sinn kommen, nichts tiefgründiges, so zeilen eben. zum einen wirkt dadurch das gesprochene ringsumher rätselhafter und damit interessanter, zum andern bin ich hernach (hernach, wie hermann lenz sagen würde …) weniger grummelig über die vergeudete zeit. und die imagination von späteren unterhaltungen über mein verhalten in solchen sitzungen ist die zugabe: „er saß immer da und kritzelte in sein notizbuch …“

Veröffentlicht unter ddr, demokratie, ökologie, welt | Schreib einen Kommentar

unverhoffter besuch

als christoph kolumbus am 12. oktober 1492 auf der bahamasinsel guahanahaní offiziell laut seinem log- und bordbuch landete, die er jesus christus zum dank für die überstandene fahrt und zu ehren el salvador – erlöserinsel – nannte, erlöst von der langen fahrt und erlöst, wie man meinen könnte, von der ungewissheit, ob je land zu erreichen war auf dieser seereise, verschwieg er seiner mannschaft, den mitgereisten vertretern der kronen aragons und kastilliens und auch den kapitänen pinzon, die die begleitschiffe nina und pinta unter ihrem kommando hatten, dass er bereits in der morgendämmerung auf der insel gewesen war. man hatte ihm nicht geglaubt, dass es im westen land zu finden gäbe, und er hatte seinerseits immer wieder die ängste der seemänner vor meeresungeheuern, sirenen und dem magnetberg zu zerstreuen versucht. wie sollten sie ihm die geschichte von der dunkelhäutigen, aber weißgewandeten, irgendwie leuchtenden frau glauben, die plötzlich in seiner kajüte gestanden hatte und ihn im vertrauten genueser dialekt angeredet hatte. sie streckte ihm ihre hand entgegen und beschwichtigte ihn, er solle sich nicht fürchten. er nahm ihre hand und folgte ihr an deck, alles schlief, drückende hitze, ein lufthauch. an der reeling packte sie ihn plötzlich, mit einer leichtigkeit, als sei er ein kind, und, wer sollte das glauben und nicht sagen: hexe!, flog mit ihm davon. immer weiter und höher stiegen sie, durch die wolken bis der aufstieg jä abriss und er die schwere seines körpers nicht mehr spürte. seine begleiterin beruhigte ihn und zeigte nach unten. dort lag die erde, eine gewaltige kugel in blau, weiß und grün. er hörte keinen ton, sie schwebten alle drei in der stille. er erkannte spanien und das mittelmeer, frankreich und england, die afrikanische küste und auf der andern seite, fast noch in dunkel gehüllt, eine vielzahl von inseln und eine lange küstenlinie. kathai, zipangu, rief er aus, aber kein laut entsprang seiner kehle. die frau schüttelte den kopf, nahm wieder seine hand und sie flogen nach osten, übers mittelmeer und das heilige land nach persien, das meer entlang auf ein land zu, das wie ein höcker in einen weiten ozean ragte. sie sah ihn an und er wusste: indien. weiter flogen sie über eine großen archipelagus hinweg auf ein land zu, um das sich in einem kühnen bogen ein weiteres meer schloss, sie ansehen und wissen: kathai. weiter im osten dämmerte es, man erkannte mit mühe noch eine küstelinie, er musste sie nicht mehr ansehen, er ahnte es selber: zipangu. sie nickte, nahm in wieder bei der hand und flog mit ihm durch die nacht, allmählich spürte er wieder die schwere seines körpers und ganz im osten begann ein mattes leuchten, der nächste morgen. sie flogen über einige inseln hinweg, streiften das laubwerk an einem strand und landeten kurz darauf wieder auf der santa maria, nach wie vor schlief alles, nichts regte sich, allenfalls ein wenig die segel und das schiff trieb langsam auf die insel zu. er fragte sie, was das für eine insel sei, zu welchem königreich sie gehöre und was sich in der nacht verbergen würde, sie zuckte mit den schultern, gab ihm einen sanften kuss auf die wange und flüsterte ihm dabei ins ohr, seine entdeckung liege da in der morgendämmerung. er riss die augen auf, hörte sein herz schlagen. die nacht ist vorbei, der tag ist erwacht, wenn die geister singen könnten, sie sängen diesen choral. sie löste sich von ihm und entschlüpfte durch die tür, die sie knarrend schloss. kolumbus stand einen augenblick noch in der kajüte. eine insel lag vor dem schiff, bald würden sie sie erreichen, viele inseln und ein großes land, aber weder zipangu, noch kathai oder indien. wer sollte ihm das glauben, die weißgewandete frau und das unentdeckte land? er würde allen weiterhin sagen, dies seien zipangu, kathai und indien. käme zeit, käme rat, in jedem fall hatte er recht behalten, wenn auch anders als gedacht, aber so ging es ja häufig. wie in den orakelsprüchen aus delphi. hinter einer hölzernen mauer werdet ihr schutz finden. er wendete sich um und warf sich auf sein lager, nach kurzer zeit fielen ihm die augen zu, nur für einen moment. kolumbus schreckt wieder hoch und fährt sich mit der hand übers gesicht. aber er fragt sich nicht: war das ein traum, sondern er fragt sich: ist sie dir nicht schon einmal begegnet?

***

– gesetzt, es habe bis ins fünfzehnte jahrhundert das delphische orakel gegeben und ferner, der genueser seemann christoph habe es aufgesucht und gefragt. was hätte es wohl geantwortet?

– eine kontrafaktische frage.

– gewiss, aber ihre ganze geschichte ist ja contra facta. was hätte ihm die pythia geantwortet?

– unverständliches. die apollonpriester übersetzten die dunklen worte der gottheit.

– selbstverständlich. und wie hätte die übersetzung der priester gelautet?

– sie geben keine ruhe, was interessiert sie denn an dieser völlig abseitigen frage?

– sie haben doch diese geschichte erzählt, ich musste zuhören, da werde ich wohl ein wenig weiterspinnen dürfen.

– vielleicht: im abend wirst du finden, was du im morgen vergeblich suchst.

– und das soll heißen?

– das lag immer in der deutung des fragenden. für die einen vielleicht: gods own country. und ich sah einen neuen himmel und eine neue erde …

– die apokalypse des johannes. die amerikanische lesart, die evangelikale – und wie lautete die ihre?

– erst zwingen sie mich, eine pythiaantwort zu imaginieren und dann soll ich auch noch eine deutung dazu finden!

– ich möchte sie nur daran erinnern: die priesterauslegung der pythiaantwort …

– jaja, schon gut. sie sind ein erzgescheiter bursche, brief und siegel. – es gibt keine prophezeiungen, nicht einmal prognosen. der gang der geschichte, um es einmal so zu formulieren, schlägt immer wieder unerwartet haken. 1492: das katholische königspaar hatte granada erobert, aber weiter im osten saßen die türken schon seit einigen jahrzehnten in konstantinopel und auf dem balkan, sie klopften bereits an die tür des sacrum romanum imperium, das sich als zweiter erbe roms verstand. wer wollte da nicht an den weltuntergang glauben und an die apokalypse des johannes, die türken nicht als die völker gog und magog betrachten. aber was geschieht: ein neuer kontinent im fernen westen wird jenseits des meeres enthüllt.

– eine sehr westliche interpretation, meinen sie nicht? die erfolgsgeschichte der modernisierung: kolumbus, calvin, kopernikus …

– ich lebe ja im westen und sie auch, was wollen sie? außerdem verstehen sie mich nicht richtig. man soll den tag nicht vor dem abend loben, aber eben auch nicht verdammen.

– sie fordern uns also mit nietzsche gewissermaßen auf: in die schiffe, ihr philosphen. es gibt noch eine andre welt und mehr als eine zu entdecken.

der gesprächspartner (1) hatte sich eine zigarre, vermutlich kubanisch, angezündet und verschwand allmählich in ihrem dunst, ein nicken konnte man noch erahnen.

(1) das gespräch fand in einem straßencafé in der innenstadt von l. statt. der kontakt war über den verlag vermittelt worden, die wirkliche identität des gesprächspartners war dem journalisten rust nicht bekannt. er hatte aber indizien dafür, dass es sich um michael querner handelte, den professor für iberoamerikanische geschichte an der universität xanten, der in l. promoviert wurde (noch in den letzten jahren der ddr) und sich in den frühen neunziger jahren dort auch habilitiert hatte. dieser habe damals schon, so der inzwischen emeritierte l.er wissenschaftshistoriker brun gundelfinger zu rust am rande einer akademischen festveranstaltung, seine wissenschaftlichen texte durch belletristische ergänzt und unter pseudonymen veröffentlicht, erst aus furcht vor der zensur der parteileitung, dann aus furcht vor der häme der westkollegen. – rust notierte sich ferner nach dem gespräch mit gundelfinger: „vgl. dazu david lewis/dennis rodgers: the fiction of development. literary representation as a source of authoritative knowledge, in: journal of developmental studies 2 (2008).“ darauf war er unlängst im feuilleton seiner tageszeitung aufmerksam gemacht worden (thomas steinfeld: vergesst die experten. wissen romane mehr über die welt als die wissenschaft?, in: süddeutsche zeitung vom 13. november 2008, s. 11).

Veröffentlicht unter feldrainsteine | Schreib einen Kommentar

es ist nicht nötig, einen erdteil zu erfinden, der durch eine atomare katastrophe zerstört ist, die verödeten stellen finden sich überall zwischen den menschen (hans erich nossack). er dachte vermutlich an einen atomar geführten konflikt und nicht an eine reaktorkatastrophe. der kontinent tschernobyl. aber ja: die verödeten stellen finden sich überall um und in uns selber. ein schauriger blick in die nähe oder in die abgründe der eigenen seele. aus dem genauen hinsehen allein ergeben sich lösungen, wenn sie sich überhaupt ergeben. die dämonen verlieren ihre kraft, wenn man sie ansieht und anspricht. gewiss: leicht gesagt, aber mühsam in die tat umgesetzt. wie lernt man dämonen anzusprechen? und immer weiter …

ich erinnere mich an den gewöhnlichen schneeballstrauch, der auf meinem schulweg lag, und stelle mir alternativen vor, die sich mit einem tisch am fenster und einem notizbuch skizzieren lassen. immer die gleiche vorstellung, immer die gleichen irrealen konjunktive, die mich in den schlaf wiegen.

Veröffentlicht unter mitteleuropa, ökologie, poetik | Schreib einen Kommentar

„schönes, helles wg-zimmer“ las ich irgendwo. dunkel, kalt und feucht, im keller gelegen wird es ja wohl kaum sein. was heißt „schön“? man kann sich zu viele gedanken über das richtig gewählte wort machen, das kommt vor, aber zumeist ist doch das gegenteil der fall.

vor mir lief ein mann. es pfiff in einem fort, als sänge ein vogel. erst nach einer weile merkte ich, dass der mann pfiff. – die unbekümmertheit ist die nichtreflektierte kühnheit. ich gehe durch die straßen und pfeife mir eins. drauf gepfiffen, sozusagen.

im hörsaal des cli stelle ich mich immer vor die tafel, während ich auf r. warte, und lasse meinen blick durchs rund schweifen, immer auf der suche nach hübschen frauen, erotischen möglichkeiten, die am wegesrand aufblitzen. heilige anna hilf, ich will kein (!) mönch werden müssen. dieses mal fiel mein blick auf eine dunkelhaarige, auf die ich schon aufmerksam gemacht wurde. ich bemühte mich, sie anzulächeln. sie lächelte, aber ich weiß nicht, ob es mir galt. das alte spiel geht, wie ich unlängst las, folgendermaßen: mann lächelt frau an, frau lächelt zurück (auswahl), mann darf frau ansprechen und einladen.

für den hamsterbau: „ein scharfer hund“ (ich belle gleich …) – er thematisierte gleichsam ein stück leipziger memoria. – aha.

wie ich den berg von burkhardtsdorf richtung gelenau hinauffuhr, stellte ich mit blick auf die texte fest, die ich c. w. zuschickte, dass ich damit in ein stadium eingetreten bin, in dem es vor allem darum geht, ständig neue texte zu produzieren. wenn man jahrelang vor sich hinschreibt, hat man natürlicherweise irgendwann einen stapel, von dem man wohl das eine oder andere hier und da veröffentlichen kann, könnte, aber die kunst besteht in der anhaltenden produktion.

Veröffentlicht unter leipzig, poetik, staunen | Schreib einen Kommentar

im deutschlandfunk gibt es neben dem täglichen gedicht einen schülerwettbewerb: jeden monat wird ein thema vorgegeben, zu dem man ein gedicht einreichen kann. ich blätterte durch die prämierten, publizierten beiträge und fand den namen e. k.s – die junge dame aus bulgarien, die vor zwei jahren an der sommerakademie in papenburg teilnahm. ich lief einmal hinter ihr und hörte, wie ein gedachter journalist ihr komplimente machte wegen ihrer veröffentlichungen. zweierlei kam mir in den sinn: so warst du auch, als du so alt warst wie er. und: die ist zehn jahre jünger als du und hat schon ihre ersten erzählungen und bücher veröffentlicht. ach gib’s doch auf … aber ich kann nicht. und ich will auch nicht. ein schreibtisch, von dem man wochenlang nicht fortgehen kann, nicht so sehr, weil einen die witterung zum bleiben zwingt, als vielmehr weil man nicht von ihm fortgehen möchte und nicht von ihm fortgehen muss, um irgendwo zu antichambrieren.

Veröffentlicht unter poetik | Schreib einen Kommentar

mir scheint es so, als schriebe jeder oder versuchte zu schreiben. wenn ich nichts werd‘, werd‘ ich autor. und dann gelingt es denen auch noch, während ich mit stütze mein leben friste. neuerdings hat sich in das andere innenohr, das nicht vom zweifelzwerg bewohnt wird, mutter courage einquartiert, in gestalt von helene weigel, aber mit lockigen blonden haaren. ich soll nicht so negativ sein und von stütze reden, ich könne doch einiges – zum wenigsten nicht schlecht schreiben. ich bleibe skeptisch. aber das schlimmste ist, dass sich zweifelzwerg und mutter courage gegenseitig angiften und beharken – aber ich bin dazwischen eingeklemmt in meinem kämmerchen, aus dem ich nicht entkommen kann. alles steht bereit: ein stuhl, ein tisch, feder, tinte und papier. en garde. – en garde!, wenn ich das schon höre, grummelt der zweifelzwerg und zieht sich in einen winkel des ohrs zurück.

die nöte eines vermeintlichen oder tatsächlichen dichters interessieren allenfalls vermeintliche oder tatsächliche dichter. da draußen gibt es aber noch eine andre welt und mehr als eine, die immer stärker aus den fugen gerät und zu deren ungefährer bewahrung man die leidenschaft der revolution brauchte. von fortschritt redet lange keiner mehr. ein leidenschaftlicher konservativer im sinne des pathos des bewahrens.

am nachbartisch zwei junge frauen, die eine weinte ständig, die andere tröstete. man vermutet einen bösen mann. als die trösterin kurz verschwunden war, sah ich zu der vermeintlichen verlassenen, sie weinte zwar nicht mehr, aber ihre augen waren tiefrot. ich lächelte sie an und sie lächelte zurück. – das hilft doch schon. sein leben meistern und den andern helfen, ihres zu meistern. mehr braucht es nicht. – wer lächelt mich an? wenn ich jetzt schriebe, ich könne mich nicht verlassen fühlen, weil ich mich nie in einem anderen zustand befand, riefe mich mutter courage aus dem rechten innenohr heraus zur räson. aber es ist schon so: viele nett, aber niemand da, an den ich mich lehnen könnte, ohne fürchten zu müssen, sie könnte verschwinden oder gar nicht da sein. mir ist natürlich bewusst, dass ich damit nur der romantischen konstruktion, dem ideal aufsitze – aber entwöhne dich mal verinnerlichter kultureller muster. liebe und fremdenfurcht. selbst wenn mir gelegentlich wieder ein langhaariges geschöpf nicht nur über den weg liefe, sondern auch die schulter zum anlehnen (und die lippen zum küssen böte), ein rest fremdheit, unsicherheit bliebe immer. immer sitzt man allein in seiner kammer, allein an seinem schreibtisch. das gespräch lindert das leiden, aber zuletzt muss man’s hinnehmen und das beste daraus machen. ein buch, zu beispiel.

Veröffentlicht unter anthropologie, poetik | Schreib einen Kommentar

u. l. läuft durch mein panorama und man glaubt ihr den doktor nicht – laufe ich durch irgendjemandes panorama, schreibt man mir dergleichen zu, aber ich bin es nicht und werde’s kaum. that’s the difference. mehr sein als scheinen und seine umkehrung. – die entscheidende frage lautet: in welchem falle ist man glücklicher? es beschränkt sich nicht auf die promotion, es lassen sich viele benennungen finden. was macht den historiker, dichter, menschen? – und dann heißt es wieder: ich sei negativ. ich schlage die arme übereinander und grummele vor mich hin: stimmt gar nicht. ich verziehe das gesicht und sage: ich bin positiv.

abends las ich mich in barack obamas reden fest. es wurde nacht, aber statt nach hause zu gehen, fand ich eine reihe von fotos auf der seite der new york times, die meine aufmerksamkeit erregten. so wurde es nur noch später. schließlich daheim las ich noch in einem essayband von juri andruchowytsch:

(…) normalerweise reist er im sommer und schreibt im winter, wenn die weiße undurchdringlichkeit des schnees sein haus (…) zuweht und man den schreibtisch wochenlang nicht verlassen kann und die vorbeifliegenden düsteren tage leicht mit den ellenlangen, stockdunklen nächten verwechselt. das verhältnis ist etwa achtzig zu zwanzig zugunsten der nächte. (…) [er] schreibt meist in der nacht, wenn sich unterm schutz des dunklen himmels alles entfernt, verschwindet, wenn er allein ist. nachts schreiben ist eine berauschende übung, die nacht schafft eine trügerische nähe zu kosmos und fördert dubiose gespräche über die ewigkeit. alles, was nachts geschrieben wird, erscheint genial – bis man es tags darauf noch einmal durchliest. (…)

(juri andruchowytsch, engel und dämonen der peripherie, in: ders., engel und dämonen der peripherie. essays, frankfurt am main 2007, s. 116f.)

es ist die rede von andrzej stasiuk, der in den kleinen beskiden an der polnisch-slowakischen grenze lebt, aber es könnte wohl auch vom erzgebirge die rede sein, die trennung von der welt durch den schnee, die wintertage, die winternächten gleichen, der zwang, am schreibtisch zu bleiben, weil man nirgendwohin gehen kann. ich füge drei punkte an und zwinkere mit den augen …

Veröffentlicht unter erzgebirge, mitteleuropa, poetik, universität | Schreib einen Kommentar

wie gewinnt man am morgen mut für den tag?

der präsident der malediven, der morgen offiziell ins amt kommt, hat angekündigt, einen teil der tourismuserlöse zu verwenden, um land zu kaufen, entweder in indien und sri lanka oder in australien, um beim befürchteten anstieg des meeresspiegels staat und nation im ganzen zu verlagern. das erinnert im kleinen an die verlagerung von dörfern, die durch tagebaue sonst verschwänden. außerdem fällt einem der kauf des geländes für das spätere bremerhaven durch den bremer senat ein, aus souveränem preußischen wurde souveränes bremer staatsgebiet. – in jedem fall ergeben sich durch den klimawandel auch hochinteressante staatsrechtliche fragen: was wird aus einem staat, dessen territorium überspült wird? kann man ein staatsgebiet aufgeben? lässt sich ein staat und seine nation (davon geht ja wohl das ius publicum aus) translozieren? und wenn ja, auf welche weise müsste das geschehen? das problem beschränkt sich ja nicht allein auf die malediven. zweifelsohne müsste die translokation (es ist ja keine neugründung wie im falle israels und auch keine separation wie im falle des kosovo oder eritreas) im rahmen der vereinten nationen geschehen. ich habe zwar keine vorstellung von den abläufen im deutschen staatsrecht, aber daraus ließe sich meines erachtens eine hochspannende untersuchung im rahmen einer graduierungsschrift anfertigen. aber ich bin ja kein staatsrechtler und habe ohnehin übergenug zu tun.

besagter präsident ist, nota bene, der erste demokratisch gewählte des landes. es gibt ihn also doch, den demokratisierungsprozess im muslimischen kontext. die bewohner der inselwelt sind überwiegend muslime, wenn auch nur insgesamt ca. 300.000 – aber wird das irgendwo erwähnt? überall wird nur auf den gescheiterten versuch verwiesen, im irak ein leuchtfeuer der demokratie zu entfachen, das sich über die ganze region verbreiten soll. new middle east und solche scherze. – dein kommentar zur gegenwärtigen weltlage, was?, raunt mir mein zweifelzwerg ins innenohr …

Veröffentlicht unter demokratie, ökologie, welt | Schreib einen Kommentar