der moderator der liederbestenliste träumt von einer welt, die menschen erfordert, wie sie nicht sein können. die vorgestellten lieder treten im modus der empörung auf, als wüssten die liedermacher, wie es wirklich ist. aber offenbar kennen sie den menschen gar nicht so genau, denn sie machen sich wohlfeile systemkritiktopoi zu eigen, die jedoch letzten endes keine analyse darstellen, sondern nur affirmatives geschwafel sind: die da oben kungeln alle und wir hier unten müssen schuften. (und wie bei rechenaufgaben im kleinen einmaleins, die bis zum umfallen geübt wurden, muss die lösung gar nicht mehr formuliert werden, die hat schon jeder im kopf: lasst uns hier unten kungeln gegen die schufte da oben.)
wenn ich derlei höre, sehe ich im unter- oder hintergrund immer die volksgemeinschaft herumgeistern, die vorstellung, es gäbe jenseits der interessen einzelner eigennütziger gruppen von da oben einen volkswillen, dem es bloß zum ausdruck und durchbruch zu verhelfen gelte. es findet in solchen liedern ja nicht einmal eine weltbeschreibung statt, wie es karl marx den alten philosophen vorwarf, es werden nur phrasen gedroschen. immer mit dem dreschflegel aufs gleiche stroh: eins, zwei drei, eins, zwei, drei, … so dient die aufführung der eigenen empörung der rechtfertigung des eigenen daseins, aber niemand wäre durch das brüllen von parolen gerechtfertigt: ich skandiere, also bin ich. so lässt sich keine veränderung bewirken. wer sich empört, kann nicht genau hinschauen, weder auf die welt, die ihn umgibt, noch auf die welt, die er in sich trägt.
ich habe natürlich keine ahnung. so genau ich auch selber hinzusehen vermag, weiß ich doch in jedem augenblick, in dem ich genau hinzusehen versuche, dass ich noch genauer hinsehen müsste, um die spur einer ahnung zu haben. je genauer ich hinsehe, desto deutlicher wird mir meine unfähigkeit zur genauigkeit. sätze wie „wir sind vasallen der usa“ empören wiederum mich und ich bin hingerissen zu erwiderungssätzen wie: besser in einer amerikanische weltprovinz leben als in einer russische satrapie hausen, aber in so enger nähe zu hans-ulrich wehler und heinrich august winkler fühle ich mich auch nicht unbeschwert wohl, geschweige denn beheimatet.
was sagt es über mich aus, wenn mich sowohl artikel aus der frankfurter allgemeinen als auch solche aus der tageszeitung zum widerspruch zwingen? mag sein, dass ich nicht mit ausreichend feinem strich zeichnen kann, vielleicht kann niemand mit solcher genauigkeit den stift führen, dass ich keinen widerspruch empfände, aber ich weiß ganz genau, wann unredlich eine allzu grobe linie geschwungen wird. ich schwanke so sehr, ich trage selbst so viele gegenteile und widersprüche in mir, dass mir nichts ganz und gar fremd bleibt, solange es genau und redlich auf- und ausgeführt ist. früher habe ich die unredlichkeit erst nicht bemerkt, sondern bin davon ausgegangen, dass jeder, der sich am diskurs beteiligt, auch so gut es geht so genau es geht dar- und klarlegt, was er sieht und empfindet. dann war es mir zu anfang egal, als mir aufging, wie leicht- und gutgläubig meine auffassung gewesen war. inzwischen empören mich solche unaufrichtigen weltbeschreibungen. aber einstweilen fehlen mir die mittel und der mut, dem widerspruchszwang, den ich empfinde, ausdruck zu verleihen.

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Eine Antwort zu

  1. sri sagt:

    über die lust des deutschen feuilletons an der entrüstung (es ließe sich auch von empörung sprechen), die bewirkt, dass es weniger auf abgewogene inhalte als vielmehr darauf ankommt, möglichst viel aufmerksamkeit zu erzeugen, indem man möglichst laut ist, schreibt sieglinde geisel im deutschlandradio kultur vom 12. april 2012 (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1727437/): „jeder kann mitreden, ohne sich den mühen der diffizilen materie auszusetzen; mit einer geschärften feder und einem in alle richtungen witternden moralischen spürsinn ist man schon dabei.“ das ist vielleicht keine gleichschaltung, wie günter grass unterstellt (um dessen israel-gedicht es in dem beitrag und dem gegenwärtigen „quartalsrausch“ des feuilletons geht), es ist lediglich so etwas wie herdentrieb, der aus der konkurrenzsituation entsteht. hier waltet keine böse macht, hier verursacht nur ein strukturelles defizit probleme. trotzdem käme (kommt) es darauf an zu sagen: etsi omnes, ego non.

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