jean ist ein junger mann, der mehr oder weniger in den tag hineinlebt und auf der suche nach historischen stoffen des 19. und 18. jahrhunderts, über die er bücher schreiben möchte, durch paris streift. seine beobachtungen und die ergebnisse seiner recherchen trägt er in ein schwarzes notizbuch ein. so auch die begegnung mit einer ungefähr gleichaltrigen frau, die dannie heißt – oder vielmehr sich ihm gegenüber dannie nennt.
bemerkenswert ist dabei, dass er ihren namen zunächst falsch schreibt und sie daraufhin seinen stift ergreift, um den fehler zu korrigieren: er nimmt sie anders wahr als sie erscheint und erscheinen möchte, sie schreibt ihm nachgerade vor, wie er sie zu sehen hat. das rätsel ihrer identität und seine versuche, aufschluss darüber zu erlangen, bestimmen den fortgang der erzählung.
durch dannie kommt jean in berührung mit einer reihe undurchsichtig-zwielichtiger leute, exilmarokkaner und mitglieder des marokkanischen sicherheitsdienstes, die offenbar mit der ermordung eines politikers aus dem maghreb-staat in verbindung stehen. genau geklärt wird dieser zusammenhang allerdings ebensowenig wie dannies rolle dabei. vermutlich war sie an einem mord beteiligt, der im umfeld der marokkanischen gruppe drei monate vor ihrer begegnung mit dem ich-erzähler jean geschehen ist. womöglich war es auch nur ein unfall, aber gewissheit erhält jean nie – und mit ihm der leser nicht.
gut fünfzig jahre später versucht er klarheit über die rätselhafte frau namens dannie und die verwicklungen zu gewinnen, in die sie verstrickt war. beim erzählen und beim vergegenwärtigen seiner erlebnisse mit ihr geraten ihm immer wieder die zeitebenen durcheinander, zumal in seinem notizbuch nicht allein beobachtungen aus der zeit mit dannie zu finden sind, sondern auch seine recherchen, die er damals über noch länger zurückliegende epochen anstellte. „für mich hat es gegenwart oder vergangenheit niemals gegeben. alles verschmilzt (…)“, stellt er einmal fest, und an anderer stelle heißt es ähnlich, er habe nicht mehr richtig zwischen vergangenheit und gegenwart unterscheiden können.
damit erweist sich das buch als ein, wenn man so will: echter modiano: ein ich-erzähler versucht in der gegenwart, sich klarheit über eine merkwürdige begegnung zu verschaffen, die er in der vergangenheit machte, und über die nicht minder merkwürdigen umstände dieser begegnung. anders ausgedrückt: man wird als leser zeuge eines erinnerungsprozesses – ein mensch versucht, die rätsel seiner vergangenheit zu lösen, aber es gelingt ihm allenfalls mit mäßigem erfolg. geradezu unvermeidlich ist es dabei, dass die großen, mehr oder weniger katastrophalen ereignisse des vergangenen jahrhunderts im schicksal des einzelnen resonanzen erzeugen.
meistens ist der kern der geschichte ein kriminalfall im weitesten sinne: hier ein mord, ein anderes mal ein selbstmord („hochzeitsreise“) oder ein diamantenraub („sonntage im august“). und tatsächlich werden auch immer wieder, gleichsam als referenz an die beliebte literaturgattung, von den hauptfiguren kriminalromane gekauft und gelesen – aber im unterschied zu diesen steht der kriminalfall und seine auflösung keinesfalls im mittelpunkt der erzählung, vieles bleibt ungeklärt, ist bestenfalls vermutet. damit kommt jedoch die modianosche erzählweise der wirklichkeit solcher begebenheiten wohl wesentlich näher als diejenige, die man für gewöhnlich in der kriminalliteratur antrifft. es geht in den büchern des franzosen vor allem darum, wie man aus eher unzusammenhängenden, widersprüchlichen beobachtungen, erlebnissen, erkenntnissen, im nachhinein eine glaubhafte geschichte gestaltet. der leser bekommt dabei eigentlich nichts erzählt, vielmehr ist er nachgerade teil dieses prozesses, als vollziehe er sich in seinem eigenen kopf, als erinnere er sich selbst.
modiano ist insofern ein autor von erinnerungsliteratur, als er den vorgang des erinnerns darstellt. in „gräser der nacht“ zeigt er sein können meisterhaft. so wird das buch auch für den historiker lesenswert, der seinerseits ja so etwas wie ein künstler der erinnerung ist.

patrick modiano, gräser der nacht, münchen 2014.

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