lesend uwe tellkamps leipziger poetikvorlesung aus dem vergangenen jahr „die sandwirtschaft. anmerkungen zu schrift und zeit“ (frankfurt am main 2009) in der deutschen nationalbibliothek zu leipzig, einem humanistengehäuse (s)aalartig-ersten ranges, die für mich mein lebtag nur die deutsche bücherei sein wird, weil ich es mit dem nationalen nicht so habe (von wegen: ein einig volk von brüdern – bei schiller immer skeptisch bleiben, immer, grund-sätzlich) und bibliotheken mir zu urban-weltläufig sind, eine bücherei gibt es auch in katharinenberg und den dörfern und städtlein ringsum. deutsche bücherei verbindet das mitteldeutsch-provinzielle mit dem weltläufigen, so daß vom nationalen nicht viel bleibt und weder die provinz noch die welt erschreckend wirken. zumal provinz nun nichts grund-sätzlich hinterwäldlerisch-erzgebirglerisches meint, sondern als wirkungskreis nicht mehr und nicht weniger die gegend um jenen welt-mittelpunkt beschreibt, den ich durch meinen stand-punkt bezeichne. – ich lese und jedes wort entfacht in mir eine unruhe, die aufs papier will, aber vorderhand so schwer zu zügeln ist, dass ich kaum sitzen bleiben und dem drang nur mühsam nicht nachgeben kann, aufzuspringen und durch den königssaal zu rennen. es ist zeit, mit den armen zu rudern, zu rufen und umherzurennen. der rotfleckichte salamander sonnt sich auf dem rügener fensterbrett, züngelt ein wenig, ob der frühling schon in der luft liegt: meine ruh ist hin, zu pferd, aufs rad – geschwind; meine ruh ist hin, l-

lyrik entsteht aus dem lyrischen blick, und für diesen kann alles material sein, eine coladose [colodoso, caladasa, casa lada] ebenso wie ein abgebranntes streichholz, ein handy ebenso wie die geste, die daumen und zeigefinger aneinanderreibend vollführen. es gibt keine scheu vor der art des materials. im gegenteil, es macht spaß, sogenannte widerwärtige materien zu macbethschen textsuppen zu verkochen. ein text, der aldi oder einen baumarkt in sich aufnimmt und damit auch bewältigt/verdaut, wird zur feier des daseins (…) „aufgabe“ des lyrischen kochs ist es, diese essenzen zu entgiften, aus fliegenpilz und schleim und kassenquittungen ein auf seine weise wohlschmeckendes gericht zu brauen. denn: ins gedicht gehört seine zeit (s. 87).

aber ganz anders sehe ich die plastizität einer figur: was braucht man, damit der text funkelt? gedanken, kühne gedanken, gedankengesättigte zeilen, die überquellen vor assoziationsmöglichkeiten – und drei worte, die eine szenerie entwerfen. – lyrik kann in der fülle bestehen wie in der reduktion.

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Eine Antwort zu

  1. sri sagt:

    „ein detail bestimmt plötzlich meine ganze lektüre; mein interesse wandelt sich mit vehemenz, blitzartig. […] dieses etwas hat ‚geklingelt‘, hat eine kleine erschütterung in mir ausgelöst, eine zeitweilige leere. […] an ein detail (einen zünder) gebunden, bewirkt eine explosion einen kleinen sternförmigen sprung im glas des textes. […] das studium ist letztlich immer codiert , das punctum [eben jenes anrührende etwas] ist es nicht. […] was ich benennen [einordnen] kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen. die unfähigkeit, etwas zu benennen, ist ein sicheres anzeichen für innere unruhe.“ (roland barthes, die helle kammer, frankfurt am main 1985, S. 59f).

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