geträumt: ich gehe über den annaberger markt und betrete eine ladenpassage, die eher an leipzig erinnert. in einem kleinen geschäft linkerhand werden bücher und bunzlauer keramik feilgeboten. ich betrete den laden und der besitzer, der auf einer rotbezogenen chaiselongue liegt und mit kopfhörern musik hört, begrüßt mich mit den überraschten worten, es sei ein merkwürdiger zufall, dass ich genau ein jahr, nachdem ich ihm zum ersten mal begegnet sei, seinen laden besuche. ich bin verwirrt, denn ich kenne den mann nicht und kann mich an keine begegnung erinnern. er bemerkt, wir hätten doch viele gemeinsamkeiten, beispielsweise unser musikgeschmack. er hält mir für einen augenblick die kopfhörer ans ohr, es klingt erst wie psychedelische pop-musik (woraufhin ich peinlich berührt bin wegen meiner jugendlichen irrungen) und ich bleibe beschwichtigend. er ist enttäuscht und nimmt mir die kopfhörer wieder weg. zuletzt hört es sich aber eher wie barocke vokalmusik an; ich bin beruhigter, weil das doch sehr viel distinguierter scheint. ehe ich jedoch mein interesse an einer teekanne aus bunzlauer keramik vorbringen kann, kommt ein älterer mann mit einem stapel voller bücher herein. der ladenbesitzer entschuldigt sich bei mir und wendet sich dem mann zu. sie scheinen sich gut zu kennen und über die bücher bereits gesprochen zu haben, jedenfalls sind sie nach kurzer zeit handelseinig. es sind schön in leinen gebundene bücher darunter. nun kann ich meinen wunsch vorbringen – was daraus wird, verliert sich im dunkel der erinnerung.

ich verließ kurz vor zehn uhr am abend die bibliothek und sah auf der treppe ein taschentuch liegen („den dank, dame, …“). der anblick bekümmerte mich ein wenig, weil jeder achtlos daran vorüberging und diese achtlosigkeit schien mir auch dem besitzer, der besitzerin (was ich natürlich annahm) zu gelten. so verhält es sich mit vielerlei dingen, denen wir keine beachtung schenken: versteckt drücken wir damit auch aus, wie wenig wir den menschen schätzen, der damit in verbindung steht. zuweilen bemerken wir selbst nicht einmal, wie wenig wir von diesem menschen halten und sind uns gar nicht bewusst, wie sehr wir aufmerksamkeit, achtung und interesse heucheln; am umgang mit den dingen, die mit den menschen in bezug stehen, wird offenbar, was wir von den menschen halten: den sack schlagen, aber den esel meinen. – zugleich dachte ich, das müsse ich notieren. alles notieren, semper notare. und ich sah mich schon in einer ecke hocken und aufschreiben, in ein notizbuch, in einen handlichen rechner. es geht nicht so sehr darum, text zum lesen zu produzieren, sondern vielmehr das schreiben zu üben, das be-schreiben von be-obachtungen, es geht darum, die wahrnehmung zu schärfen – und das wäre ja ein ziel, das, zunächst einmal, aller ehren wert ist. – ich hatte in der bibiothek einar schleefs tagebücher angesehen, im grunde genommen eine blogartige struktur auf papier: er sammelt alte einträge (seit den frühen fünfziger jahren, allerdings sehr sporadisch, so dass man nicht betrübt und bitter werden muss in der annahme, schleef habe seit seinem zehnten lebensjahr kontinuierlich tagebuch geführt; was man nebenbei auch lernt: die unstetigkeit ist ein wesensmerkmal dieser art schreiben, man übt sich zunächst darin ein, bis man zum einen eine form für sich gefunden hat und zum andern die tägliche notiz lebens-notwendig geworden ist) und kommentiert sie später immer wieder neu. keine neufassungen, sondern erweiterungen. ein, zugegeben, wahrhaftigerer umgang mit dem eigenen, vergangenen ich, seinen fehlern, irrtümern und ausweisen von naivität. (einar schleef, tagebuch, frankfurt am main 2004-2009.)

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