abends las ich in einem erzählungsband von wolfgang hilbig. schon bald hörte ich nicht mehr die zeilen des buches, sondern meine eigenen. ich setzte mich hin und schrieb einiges davon nieder, wurde aber von bereits vorhandenen textblöcken abgelenkt. das schwierige liegt darin, die richtige lektüre zu finden, die zur befindlichkeit der stunde passt und zum schreiben anstiftet. ich verbringen einen großteil meiner zeit mit der suche nach geeigneter lektüre. aber vermutlich kann mir, in dieser hinsicht wenigstens, tatsächlich niemand helfen, so dass die suche nach der impuls-lektüre zum schreibprozess geradezu gezwungenermaßen gehört.

ein interview mit alexander kluge, in dem es unter anderem heißt: (…) diese ganzen fähigkeiten, die so alt sind, die 550 millionen jahre alt sind, die tragen wir mit uns und darin liegt die hoffnung auf auswege und die andere seite ist, dass wir in unserem 21. jahrhundert nicht eine praxis in der politik, in der wirtschaft leben, die diesen schätzen, diesem reichtum an vielfalt und eigenschaften entspricht. (…) man braucht landkarten, man braucht kartografierung für die navigation des lebensschiffes, man braucht orientierung: wo gehen die sterne auf, wo geht die sonne auf? die ortskunde der gefühle, die ortskunde der zeiten ist ein thema, das mich sehr beschäftigt. das ist einerseits einfach, wie hier auf seite eins [tür an tür mit einem andern leben, frankfurt am main 2006] sehen sie das bild eines sechsjährigen, das bin ich. eine geschichte, die sehr kurz ist, heißt: der sechsjährige in mir und der gestirnte himmel über mir. das ist die einfache version. letztlich fallen wir immer wieder auf unsere eigene erfahrung zurück. und gleichzeitig sind wir gut beraten, wenn wir so viel wie möglich unsere sonden aussenden, dass wir von der wirklichkeit schneller etwas erfassen als diese wirklichkeit zuschlägt. (…) warum ich suche in geschichten zu erklären, wo sucht man das böse? denn dieses böse ist nichts stabiles, das ist nichts, was wir nicht mit unseren mitteln bekämpfen können. und wenn wir das vertrauen, das selbstbewusstsein uns bewahren, deswegen erzähle ich immer wieder geschichten, mit welchen schätzen wir menschen ausgestattet sind aufgrund der vorgeschichte, und dass es immer ausnahmen vom unglück gibt, das erzähle ich, weil ich selbstbewusstsein gut finde, und dass man einfach an das böse dahingehend nicht glaubt, dass man alle organisationen des bösen bekämpfen kann. das ist die grundmetapher aller meiner geschichten. (…) auschwitz kann in dem moment, in dem es geschieht, nicht leicht verhindert werden, dass etwa hunderttausend mann dorthin ziehen und die gefangenen befreien, das ist sehr unwahrscheinlich und unrealistisch. aber 1928 ist noch alles möglich und eine versammlung von achthundertausend lehrern, die sich zum ziel nehmen, es soll kein dreiunddreißig geben und wir wollen keinen krieg, (…) die kann eine gesellschaft verändern. genauso können sie 2006 aufpassen, im sinne unserer kinder (…), dass die nicht 2040 in einen krieg usa-china rennen. dazu gehört eine ziemlich genaue kenntnis der gesellschaftlichen verhältnisse, genaue kenntnis der gefühle. (…) der mensch ist gesellig (…) woran ich tief glaube, dass mehrere menschen, vor allen dingen solche, die sich mögen, unmögliches machen können. (…) die meisten menschen, die links orientiert sind, sprechen von utopie, aber das wort heterotopie ist viel besser, das heißt, dicht neben der wirklichkeit, in der wir leben, gibt es immer eine zweite und diese möglichkeitsform (…) ist genauso real, wie das, was ist. eins ist mir wichtig: dass die wirklichkeit von sich behauptet, sie sei wirklich, ist eine ideologie. das ist eine gemachte sache, das ist ein kokon, den wir uns gemeinsam zurechtmachen, um es auszuhalten. aber die wirklichkeit ist reicher, da gibt es neben der wirklichkeit noch zwei, drei, vier, fünf, sechs weitere. diese ausnahmen in der wirklichkeit kriegen sie nur heraus, wenn sie schärfer beobachten, (…) wenn sie in die poren der wirklichen verhältnisse hineinblicken. wenn sie dann sehen, wie etwas produziert ist, gibt es immer diese auswege. (…) – insofern ist die „lücke, die der teufel lässt“ (frankfurt am main, 2003) der punkt, an dem man einhaken kann. es geht also darum, diese lücken zu erkunden, um es mit einer kleinen drehung hier oder da zum besseren zu wenden. — wenn man so will, treibt mich die suche nach diesen möglichkeitsformen seit langer zeit um, expeditionen, sozusagen, im garten der sich verzweigenden pfade, um mit borges zu reden. (vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=I78k0cQYw_8, letzter zugriff: 04.08.09.)

Dieser Beitrag wurde unter anthropologie, literatur, poetik, selbstethnografie, welt veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert