wir machten einen spaziergang: eine kleine runde durchs tal zur grenze und über den mittelweg zurück. der anblick einer wildkirsche holte erinnerungen an den aufenthalt am bodensee hervor. das muss ende der neunziger jahre gewesen sein, vielleicht 1998.
1998 als bloße jahreszahl verbinde ich nämlich mit: sommer, wärme, üppiger vegetation, souveränität – thomas mann würde womöglich von lebensfülle sprechen. hingegen ist etwa 1997 irgendwie: böse, gemein, niederträchtig, wenn auch weniger in einem apokalyptischen als vielmehr in einem alltäglichen sinn. 1997 steht für die bosheit, gemeinheit, niedertracht des alltags, die man zwar überleben kann, die einen über die jahre aber schrumpfen und unter den eigenen möglichkeiten bleiben lässt.
ohne mich an einzelne begebenheiten erinnern zu können, mit denen ich diese kleine phänomenologie der jahreszahlen zu belegen vermöchte, will mir 1997 als ein jahr der stagnation, 1998 jedoch als ein jahr der fülle erscheinen: alles ist möglich, es gibt noch eine andre welt – steigt in die schiffe, ihr philosophen …

bei stichworten wie obst, apfel oder kirschbaum denke ich häufig an die schwäbisch-alemannische kulturlandschaft am oberrhein. irgendwie scheinen mir die leute dort einen uneinholbaren vorsprung zu haben gegenüber unsereinem zwischen elbe, mulde und saale oder gar auf dem kamm des erzgebirges: wenigstens ein jahrtausend mehr zivilisation. freilich ist mir klar, dass zivilisation erst einmal gar nichts bedeutet und im allgemeinen eine hülse ist, die sich nach belieben füllen und als „westlich-abendländische zivilisation“ geradezu verschießen lässt.
geschenkt: das west-ost-gefälle von aufklärungs-rezeption in der breite und tiefe, geschenkt: die zweieinhalb generationen mehr diktaturerfahrung, geschenkt, geschenkt – trotzdem bleibt der eindruck von missmutigen, griesgrämigen leuten mit blassen, bleichen kleidungsstücken, denen jede form heiterer gelassenheit nicht nur fremd, sondern nachgerade verdächtig ist.
die vorstellung eines schwäbischen kirsch- oder apfelbaumes ist etwas ganz anderes als die eines sächsischen, im erzgebirge lässt sich so ein empfindliches gartengewächs gleich gar nicht denken – während das bild eines böhmischen kirschbaumhaines schon wieder einen gesitteten reiz entfaltet.
ich weiß, dass meine gedankenverknüpfungen wenig mit klimatischen und auch nicht viel mit sozialgeschichtlichen tatsachen gemein haben, sondern vor allem geprägt sind von der karte in meinem kopf. aber diese karte teile ich ja mit meinem übellaunigen kameraden. uns fehlt die nähe roms, wir hätten prag als ersatz haben können, aber ängstlich ließen wir es sich nie entfalten – zu unserem eigenen schaden und zwar nicht erst 1968 oder 1938 und auch nicht erst 1848, sondern schon 1618, ja 1415.

in meinen garten hatte ich vor jahren einen schwäbischen nussbaum gepflanzt: er treibt zwar jahr für jahr beharrlich neue blätter, aber jedes mal erwischt ihn ein später frühjahrs-nachtfrost und hindert ihn daran, zu einem richtigen baum heranzuwachsen, er bleibt ein strauch und früchte wird er wohl nie tragen.

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2 Antworten zu

  1. sri sagt:

    das bild des böhmischen kirschbaumhaines enthält allerdings ein ganz erhebliches element des gefährdetseins: die panzer imperial getrimmter nachbarn lassen sich nicht ganz wegdenken – der schwäbische oder alemannische kirschbaum hingegen steht, wo er steht, fest verwurzelt in der erden, zuversichtlich, tapfer, widerspenstig.

  2. sri sagt:

    wo es um tapferkeit und schwaben geht, liegt natürlich ludwig uhlands schwäbische kunde nahe (in: ludwig fränkel (hrsg.), uhlands werke. kritisch durchgesehene und erläuterte ausgabe, erster band, leipzig/wien [1893], s. 219-221).
    das gedicht musste mein großvater in der schule lernen und beeindruckte noch siebzig jahre später mit einer annähernd vollständigen, äußerst ausdrucksvollen rezitation. ich legte daraufhin meinen ehrgeiz daran, das – ziemlich chauvinistische – gedicht ebenfalls auswendig zu lernen – und kann es nach einigem gedanklichen sortieren der einzelnen verse glücklicherweise – wohlgemerkt hinsichtlich meiner gedächtnisleistung: „glücklicherweise“ – auch aufsagen.
    dieser tage kam mir in den sinn, dass der regional verorteten ritter mit seiner unerschrockenen gelassenheit in der gefährlichen situation eines überfalls aus dem hinterhalt („drauf sprengten plötzlich in die quer / fünfzig türkische reiter daher. / die huben an auf ihn zu schießen / nach ihm zu werfen mit ihren spießen / d e r w a c k r e s c h w a b e f o r c h t ‚ s i c h n i t, / ging seines weges schritt vor schritt, / ließ sich den schild mit pfeilen spicken / und tät nur spöttisch um sich blicken.“) sich zu dem zeitpunkt in einen „deutschen“ verwandelt, wenn er aggressiv wird: „bis einer, dem die zeit zu lang / auf ihn den krummen säbel schwang … /“ – und jetzt kommt es: „… da wallt dem deutschen auch sein blut / er trifft des türken pferd so gut, / er haut ihm ab mit einem streich / die beiden vorderfüß zugleich. / als er das tier zu fall gebracht, / da packt er erst sein schwert mit macht …/“. kurzum: wenn das blut in wallung gerät, wird man deutscher – also: ruhig blut!
    es wäre wohl zugegebenermaßen eine eifrige überinterpretation, hierin einen hinweis auf den zusammenhang zwischen nationalisierung regionaler identitäten und nach außen gerichteter, sozusagen „chauvinistisch-imperialistischer“ aggression erkennen zu wollen, aber zumindest ist die deutung ein schönes beispiel dafür, wie ergiebig zuweilen nationalromantische literatur des 19. jahrhunderts für eine wo nicht postnationalistische, so doch nationalismuskritische perspektive zu sein vermag. (freilich sind ja nicht alle zeitgenossen uhlands nationalismustrunkene dummköpfe gewesen – man denke nur an den lange zeit vielgescholtenen fürsten metternich, vgl. wolfram siemann, metternich. staatsmann zwischen restauration und moderne, mnch. 2010 und dazu die besprechung von gustav seibt, metternich als prophet. millionen vermiedener tote …, in: sz vom 07.06.10, s. 14.)
    und ganz abgesehen davon lässt sich auf diese weise auch noch ein leises plädoyer für die bewahrung und stärkung lokaler und regionaler identitäten halten.

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