wir fällen eine fichte. das abzählen der jahresringe ergibt ein alter von ungefähr hundert jahren: francisco ayala, claude lévi-strauss, … — beim zerkleinern des baumes ist der kopf frei, wie beim jäten. oder, wie mir unlängst gesagt wird, beim weinberg-pflegen. – mir kommt ein wort von, wenn ich es recht erinnere, fernand braudel in den sinn über den anfall des gewaltigen territorien-komplexes an die habsburger (ich hörte das in den letzten wochen ein gutes halbes dutzend mal, ich bete es inzwischen mit): 1477 burgund mit seinen niederen landen, 1516 die beiden spanien mit neapel und den gebieten überm meer, 1526 ungarn und böhmen mit seinen nebenländern. wegen der wechselnden verheiratungen war ein solcher anfall sehr wahrscheinlich. hier der schlachtentod eines herzogs: karl der kühne bei nancy, dort der eines königs: ludwig von böhmen und ungarn bei mohács; außerdem eine gut eingefädelte hochzeit, eine hypothek auf eine mögliche zukunft: tu felix austria nube … der zufall bestimmte nur welche gebiete an welche dynastie fielen. ich denke über andere möglichkeiten nach; ernst jünger ließ solche fragen nur in burgunderseligen stunden vorm kamin zu, aber beim holz-fällen scheint mir das auch gestattet. auf meterstücke geschnittene äste säubere ich mit der axt und werfe sie anschließend auf einen haufen. irgendwann, im licht der sinkenden sonne, bemerke ich den ästhetischen reiz dieses haufens und mache ein foto oder zwei. inzwischen habe ich mir die grübelei ein wenig abgewöhnt, was die andern wohl denken mögen, wenn ich mit der kamera umherlaufe und alles mögliche und unmögliche ablichte. (die entwöhnung solcher unnützen gedanken muss allerdings noch weitere fortschritte machen: semper notare, immer das schwarze büchlein bei der hand, die kamera – und ein internetfähiges mobiltelefon zum synchronen mitstenografieren des lebens.) auf weißem grund wäre der reiz dieses knüppelhaufens zweifelsohne noch stärker. das ist schon fast eine installation, fällt mir ein – aber ich habe natürlich keine ahnung … es gibt so viel zu beobachten, zu bestaunen (das staunen ist der beginn der anthropologie), zu beschreiben, … zu erzählen. manchmal weiß ich gar nicht, wo ich beginnen soll – und manchmal habe ich zeit und sitze an meinem schreibtisch ohne den geringsten antrieb. so viele möglichkeiten mitbekommen – und gescheitert? gescheit und gescheitert? aber immer der zweifel, auch hier, die hartnäckigkeit (die sich freilich nur im nicht-aufgeben äußert): es muss doch möglich sein, es soll uns doch gelingen. uns ist kein geist der verzagtheit gegeben, schreibt paulus aus dem gefängnis an timotheus, sondern ein geist der zuversicht. das muss man nur verinnerlichen. statt der selbstzerstörerischen geringschätzung des menschen. weniger zerknirschtheit, mehr evangelische freiheit. je länger ich darüber nachdenke, um so mehr nehme ich es den vertretern der landeskirche, die mir in meinen jungen jahren über den weg liefen übel, wie stark sie das eine betonten und wie wenig sie von dem anderen sprachen. so hält man die glieder nicht in der gemeinde, so zeugt man schon gar keine proselyten, das muss man ganz anders machen. das schlimmste ist: man kann es auch tatsächlich ganz anders machen. man muss sich nur darauf einlassen und die leute lesen lassen: sola scriptura. das wohl und wehe der welt hängt ja nicht länger von der bekenntniskonformität ab. keiner muss mehr aufs bergisch buch schwören. am ende sind die häretiker die treueren anhänger. beten heißt: sich gedanken machen – über gott und die welt. ich schweife ab, aber die abschweifung ist: prinzip; und zu abschweifung gehört auch das zurückschweifen. – während ich einen meterlangen fichtenast in der hand halte und schon die axt daran legen will, schaue ich genauer hin (darauf kommt es ja an: genauer hinschauen, immer genauer hinschauen) und stelle fest, mit einem mal und mit einer regelrechten überwältigung, die mich für eine ganze woche voller verzagtheit und unfähigkeit zum handeln entschädigt, stelle fest, wie schön er ist. die äste sind allerdings über und über mit feinem moos bewachsen, ein schwarzweißabzug gibt den reiz nur sehr reduziert wieder. — ich lege china über europa und imaginiere ein imperium romanum renovatum durch einen alternativen zusammenfall von territorien im herbst des mittelalters. im zentrum der phantasie liegen frankreich und böhmen, prag und paris. ich schweife durch so ein ständisch geprägtes europa, wie es en miniature das alte reich in seinen besten tagen eins war. irgendwo in einem palast hockt ein kaiser, mitglied einer familie, in welcher der anspruch gewählt zu werden vererbt wird; trotzdem gibt es von lissabon bis odessa, von stockholm bis palermo dutzende von zentren, in denen paläste stehen und fürsten hocken. provinz schwaben, kreis böblingen; provinz böhmen, kreis friedland; provinz sachsen, erzgebirgischer kreis, … und irgendwo in diesen provinzen und kreisen ein fichtenwald, darin ein wald-arbeiter, der bäume zerlegt und in seiner freizeit fotos und installationen davon macht …

fichtenäste

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fichtenast

zuletzt kann man den unbehauenen ast einerseits und abererseits den entzweigten meterknüppelhaufen als einen kommentar zum problem der konformität lesen.

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