thomas steinfeld beschreibt in seiner besprechung der tagebücher von susan sontag den idealtypus eines intellektuellen: (…) es gibt intellektuelle in dieser welt, menschen, die sich prinzipiell kritisch ihrer umgebung gegenüber verhalten, mit einer analytischen distanz, die leicht und schnell in ablehnung übergeht – und das tun sie, während sie doch in und mit und von dieser umgebung leben. mehr noch: in dieser welt existieren junge, sehr junge menschen, die mit kaltem kopf ihre fähigkeiten und möglichkeiten bedenken und sich daraufhin entschließen, genau solche intellektuelle zu werden. die dann hingehen, als heranwachsende noch, und sich, mit dem stets ein wenig altklug wirkenden pathos der selbsterzieher, vorstellen, welchen preis sie dafür zu entrichten haben: radikale zweifel, geistige marter, lossagung von familie und kindheitsidolen, kurz, die gesamten selbstopfer einer ins intellektuelle übertragenen nachfolge christi. (…) und er fährt weiter unten mit einer diagnose fort: (…) es gibt gegenwärtig keine solchen intellektuellen, falls es überhaupt welche gibt: menschen, die ihre ganze geistige kraft dahineinlegen, gesellschaftliche widersprüche, reibungen, konflikte zu erkennen, ihnen auf den grund zu gehen und ihnen eine figur zu verleihen, mit der alle umgehen können. es gibt diesen willen nach totalem geistigen nachvollzug der gegenwart nicht. an seine stelle ist das moralisieren getreten, die ebenso einfältigen wie selbstgefälligen versuche, die welt an den idealen zu messen, die sie von sich selber hegt – um daraufhin in wohlfeile klage auszubrechen, dass die ideale nicht erfüllt werden. (…)1

die frage lautet, ob man sich wirklich entscheiden kann, so mirnichts, dirnichts: ich will ein intellektueller werden, ein dichter, ein gelehrter, …? kann man sich vor den spiegel stellen und während man sich rasiert mantraartig wiederholen: ich kann, ich will und ich werde professor werden? geht das so einfach oder sind das lediglich retrospektive erzählungen zur biografischen stabilisierung der eigenen identität? vielleicht ist auch der fall denkbar, dass einer von der eigenen bedeutung so sehr erfüllt ist, dass er einen so starken drang zur äußerung empfindet – und doch an der begrenzung und vor allem begrenztheit der eigenen möglichkeiten scheitert: jemand, der als intellektueller losspringt in einem kühnen entwurf von sich selbst – und kläglich nach kurzem flug im schlamm landet und endet, bestenfalls als klein-intellektueller. aus dem erzgebirge. der erzgebirgler (sic) als intellektueller kann vermutlich nur so ein klein-intellektueller sein, ein geistiger bettvorleger: johannes mario statt georg simmel.

ich schweife in meine vergangenheit und prüfe mich: ich muss gestehen, dass ich solche vorstellungen meiner zukunft hatte, solcherlei anwandlungen, weniger ausdrücklich geäußert als vielmehr verborgen im herzen getragen mit dem gefühl, etwas besonderes besseres und den üblichen regeln des lebenslaufs deshalb nicht unterworfen zu sein. ich versuchte, eine distanz zu meiner gegenwart zu gewinnen und ein kritisches verhältnis zu ihr wie zu mir selbst und meiner kritischen haltung zu entwickeln. aber mir mangelte es allezeit (und mangelt es noch) an genügend selbst-disziplin (und dahinter vermutlich an genügend leidenschaft und selbst-gewissheit). wer kann, der tut, heißt es, aber noch zutreffender ist wohl: wer muss, der kann. insofern fehlt mir offensichtlich nicht allein die fähigkeit, sondern vor allem das zwingende momentum, das keine ruhe lässt, der stachel im fleisch. ich gebe allenfalls vor, mir brennte es unter den nägeln und auf der haut, ich heuchle es und rede es mir ein, so dass ich zuletzt oder zuerst selbst daran glaube, ohne dass sich freilich eine leidenschaft, eine passion einstellte. es liegt an mir, an mir, an mir: ein dürrer acker bringt keine frucht, ein dürrer berg birgt kein erz, früher oder später muss man sich die eigene mittelmäßigkeit eingestehen. und dabei ist es gar nichts nütze, die schuld daran in den schlechten umständen zu suchen, in fehlenden geistern, die hätten zuraten und bestätigen können, aufmuntern und antreiben. ich war immer ganz allein mit den büchern und den einfällen, die sie mir verschafften und nie weiß ich, ob sie einfältig sind – oder kühn. aus einer solchen unsicherheit entstehen keine texte, sondern allenfalls grübelndes geraune, das um sich selber kreist.

kann man mit sechzig jahren voller erziehung zu misstrauen, furcht, kleingeisterei, … im rücken überhaut so einen sprung ernsthaft wagen? zumal es hinter dem horizont von neunzehnhundertdreiundreißig nicht besser aussieht, der schritt aus der vormoderne hatte für den gemeinen mann aus dem erzgebirge oder der niederlausitz gerade erst begonnen. nur dass im unterschied zu andern teilen der welt, weiter westlich gelegenen teilen nicht einmal lediglich sechzig jahre stillstand und entwicklungsverzögerung eintraten, sondern ganz im gegenteil unser mann mit allen mitteln, die dem mächtigen staat des letzten jahrhunderts zur verfügung standen, zu einem immer kleineren und elenderen menschen gemacht wurde, der keinem mehr vertraut, nicht einmal sich selber, der nichts mehr wagt und unternimmt, nicht einmal einen schritt vor die tür des hauses, das ihm genommen wurde, der sich vor allem und jedem fürchtet, sogar vor den eigenen gedanken, so dass es ihm niemals in den sinn käme, sie zu äußern und im widerstreit zu verteidigen. der lange weg nach westen scheint mir nicht abgeschlossen, sondern gerade erst begonnen. tragisch daran ist allein, dass der westen voll ist, überall springt jemand aus dem verborgenen auf und ruft in der manier des igels, er sei schon längst da und alles schon gedacht, gesagt, getan. als armer, gehetzter hase kann man nur in der mitte des feldes, auf halbem wege zum nirgendwo, zusammensinken, verzweifeln und sich vergraben, die kleider zerreißen und asche zum himmel aufs eigene haupt werfen. da kauert es in der furche, das häslein, im schützengraben, das menschlein, und sein herz schlägt so geschwind, dass es bald zu bersten scheint, unendlich geschwinder als dasjenige des selbst-bewussten liebenden im elsass. mein geist ist zerbrochen, meine tage sind ausgelöscht; das grab ist da. meine tage sind vergangen; zerrissen sind meine pläne, die mein herz besessen haben. was ist meine kraft, dass ich ausharren könnte; und welches ende wartet auf mich, daß ich geduldig sein sollte? ist doch meine kraft nicht aus stein und mein fleisch nicht aus erz – möchte man mit dem hasen und dem hiob klagen in einem fort.

aber vielleicht ist es auch der falsche an-satz, der falsche blick-winkel auf sich selbst und das, was man zu tun imstande ist: vielleicht geht es weniger darum, was man ist oder sein möchte, sein kann, sein soll – als vielmehr schlicht darum, den beschädigungen der eigenen seele nachzuspüren und der schuld, die aus früheren zeiten heraufdrängt. zeugenschaft der eigenen gegenwart, was immer meint: der jeweils eigenen wahrnehmung der gegenwart, ihrer schulden aus der vergangenheit und ihrer hypotheken auf die zukunft. zwei prinzipien, wenn man so will, bestimmen mein sinnen seit gut anderthalb jahrzehnten: das streben nach souveränität im denken, urteilen, handeln, und nach wahrhaftigkeit. wer will einem dabei schon am zeug flicken – und tut es dennoch einer, kann man sich mit fug und recht wehren, denn der kampf gilt nicht dem anderen in erster linie, sondern den eigenen ängsten und der eigenen unaufrichtigkeit. was auf den ersten blick als ein sehr individuelles, um nicht zu sagen: selbstsüchtiges unterfangen anmutet, erweist sich beim weiteren überdenken als das ganze gegenteil, denn die ängste, mit denen man ringt, teilt man mit den anderen, die einen umgeben, wie auch die illusionen, an denen man sich wie alle andern zu beruhigen sucht vor der überwältigenden wirklichkeit. ich bin so beschränkt in geistigen dingen wie alle andern auch und so furchtsam gegenüber der welt wie sie. indem man aber zuerst und vor allem mit sich selber ringt anstatt aus einem vermeintlichen gefühl der intellektuellen und moralischen überlegenheit mit den anderen, überwindet man, womöglich, die flachheit des moralisierens und erreicht, womöglich, so etwas wie … glaubwürdige ernsthaftigkeit.

wie entgeht man dem moralisieren? vielleicht indem man zum einen nicht vorgibt, es besser zu wissen als man es tatsächlich tut, und zum andern indem man den aussichtslosen versuch unterlässt, die ambivalenzen der gegenwart in einem einfachen moralischen schema aufzulösen, und statt dessen selbst einen anfang setzt.

1 thomas steinfeld, nicht lächeln, nicht verbindlich sein. als die amerikanische essayistin susan sontag 2004 starb, hinterließ sie über hundert tagebücher …, in: sz vom 16.03.10, s. v2/5. – susan sontag, wiedergeboren. tagebücher 1947-1963, mnch. 2010.

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