joachim kaiser räsonniert in der süddeutschen zeitung darüber, warum kaum einer von den intellektuellen der weimarer republik die gefahr des nationalsozialismus erkannte und sich mit allen mitteln der öffentlichkeit dagegen wandte. das erinnert ein wenig an ein alternativszenario, das alexander kluge in einem interview entwickelt: eine versammlung von einhunderttausend lehrern, die 1928 entschieden hätte, alles zu tun um einen krieg zu verhindern, hätte die fähigkeit gehabt, so kluge, sowohl den krieg als auch die shoa zu verhindern, während man selbst mit den besten mitteln 1943, als die auschwitzer vernichtungsmaschinerie auf vollen touren lief, nicht viel hätte mehr erreichen können (leute wie ralph giordano würden vermutlich einspruch erheben und mir selbst erscheint weder das szenario plausibel noch das fehlen von handlungsoptionen zu besagtem zeitpunkt). diese blindheit stellt er die untergangsprophetie der künstler am ende des bürgerlichen 19. jahrhunderts gegenüber; im vorfeld des ersten weltkrieges habe es eine ganze reihe von kunstwerken aus malerei, musik und literatur gegeben, die die katastrophe ankündigten, die die katastrophenschwangere atmosphäre in metaphern transponierten. angesichts dessen fragt er mit blick auf die gegenwart: (…) wer weiß schon, welche gegenwärtig herannahenden, blutig-existentiellen bedrohungen wir alle im jahre 2010 nicht erkennen (…) – und schließt mit dem seufzer: (…) wenn man nur wüsste, wo immer gerade das wesentliche geschieht.1 – aber das wesentliche ergibt sich in aller regel erst aus der geschichtsschreibung späterer zeiten, so dass man es kaum erkennen kann; die besprechung einer biografie wilhelm von habsburgs2 machte mir einmal mehr bewusst, wieviele ansätze zu möglichen zukünften in einer bestimmten gegenwart liegen; den zeitgenossen verwirrt diese fülle, der nachgeborene überblickt sie kaum mehr und kommt deshalb zu dem trugschluss, das wesentliche lasse sich tatsächlich auch in seiner schieren gegenwart erkennen.

1 joachim kaiser: ahnungsvolle künstler, in: sz vom 27.04.10, s. 15.

2 er setzte in der zwischenkriegszeit von paris aus alles mögliche daran, den traum seines lebens zu verwirklichen, der am ende des ersten weltkrieges schon einmal zum greifen nah war, nämlich könig der ukraine zu werden. aber was weiß man schon von derlei unternehmungen, die in ihrer zeit auch menschen faszinierten und zu taten voller wagnisse ermunterten, die alle umsonst getan und gewagt wurden … – vgl. timothy snyder, der könig der ukraine. die geheimen leben des wilhelm von habsburg, wien 2010.

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