die ich-erzählerin in felicitas hoppes reiseerzählung „pigafetta“ schwärmt von ihren klassenfahrten.1 ich habe erst knapp eine halbe seite des buches gelesen und bin schon wieder so stark in eigenen gedanken und erinnerungen gefangen, dass ich nicht weiterlesen kann. so ergeht es mir immer, so gelange ich auf keinen grünen zweig, weil ich kaum vorankomme – bei allem, was ich lese, und in der folge auch bei den verschiedenen textprojekten, die mir mehr oder minder klar vor augen stehen oder die ich im hinterkopf mit mir herumtrage.

ich mochte keine klassenfahrten, ich war erst auf der heimreise wieder einigermaßen entspannt. u. mag das als beleg für meine reisefaulheit betrachten. aber es ist komplizierter: ich mochte deshalb klassenfahrten nie, weil es an den jeweiligen unterkünften keine rückzugsmöglichkeiten gab. immer und überall ist man der gruppe und der ständigen beobachtung ausgesetzt. wo ich es irgend kann, vermeide ich bis auf den heutigen tag so eine totale kollektivität. sobald ich einen raum habe, dessen tür ich schließen kann, wann ich es will, und in dem ich allein schlafen kann, also in diesem schutzlosen zustand keinerlei beobachtung ausgesetzt bin – in so einem fall sähe ich einer reise weitaus entspannter entgegen und wäre viel leichter zu einer reise zu bewegen.

was über die verfügbarkeit eines eigenen raumes (a room for myself) lediglich noch erschwerend hinzu kommt, ist die tiefsitzende überzeugung, keine zeit und keine berechtigung für reisen zu haben, weil ich eigentlich wichtigeres zu tun hätte und die reise deshalb mir erscheinen muss wie ein stück luxus, das mir im grunde genommen nicht zusteht – allerdings kümmere ich mich dann doch nicht um wichtigeres, sondern lebe vor mich hin wie gehabt und hätte folglich auch reisen können. da ich zum denken in alternativen szenarien neige, spekuliere ich zuweilen, wie mich eine reise verändern würde; indem ich auf erfahrungen mit den wenigen kurzen reisen oder eher: ausflügen und exkursionen zurückgreife, die ich hin und wieder dann doch unternehme, liegt der schluss nahe, dass mir häufigere reisen, also unterbrechungen der alltäglichen routine, gut täten, weil sie mir neue perspektiven eröffneten, nicht zuletzt auf mich selbst, und es mir so ungemein erleichtern würden, veränderungen im alltag zu erreichen, das heißt vor allem, den herausforderungen des tages und der stunde beherzter zu begegnen.

genau genommen ist es auch hier wieder eine frage der souveränität: weitaus wirkungsvoller wäre es, statt auf einem eigenen raum zu bestehen, so einen raum im inneren zu entwickeln, eine gelassenheit oder gleichgültigkeit gegenüber den (vielfach nur unterstellten, in jedem fall aber immer möglichen) beobachtungen der anderen. dabei müsste diese souveränität in der gewissheit des eigenen und seiner stabilität wurzeln.

beim stichwort „klassenfahrt“ empfinde ich sofort unbehagen. und obwohl sie alle derart emotional aufgeladen waren und ich mich eigentlich lebhaft erinnern müsste, fällt mir zumeist lediglich das bild einer kleinen kirche im südtiroler klausen ein: der verblichene, fleckige putz der kirche und die strahlenden blüten eines recht üppigen rosenstrauchs, der auf der rechten seite des gemäuers nach oben klettert. ich erinnere mich, wie wir von dort aus weiter nach venedig fuhren, wo ich mich mit n. s. in der serrenissima verlief, aber eine wirklich tiefe freude dabei empfand, erkundend durch die stadt zu streifen. wenn ich es genau bedenke, suche ich bei allen reisen und ausflügen die wiederholung dieser empfindung. zumeist gelingt das zwar, es setzt aber erstens einige vorbereitungen voraus, damit ich wenigstens ungefähr weiß, wohin ich mich wenden muss, um bei den erkundungen beobachtungen zu machen, die ich in beziehung setzen kann. und zweitens ist damit eine gewisse individualität verbunden, zu große und dichte begleitung würde nur ablenken.

schließlich erinnere ich mich noch an eine szene während der rückfahrt von südtirol: der busfahrer bedankte sich und fasste die reise auf launige weise noch einmal so zusammen, wie sie sich ihm vermittelt hatte. neben dieser und jeder anekdote schien er vor allen dingen feststellen zu müssen, dass sich ein pärchen gefunden habe – nämlich k. p. und ich. dies wurde mit einem derart johlenden beifall aufgenommen, wie er wohl typisch ist für sechzehnjährige, die sich zwar für äußerst aufgeklärt und abgebrüht halten, tatsächlich aber vielfach noch sehr befangen, um nicht zu sagen: verklemmt sind, und die jede sich irgend bietende gelegenheit nutzen, um die sprache aufs sexuelle zu bringen (und weniger auf das erotische), damit sie sich selbst als ausgebufft und den anderen in dieser hinsicht weit überlegen inszenieren können, ohne sich die blöße geben und offenbaren zu müssen, wie wenig erfahrung sie eigentlich besitzen, wie verlegen sie im grunde genommen sind. zugleich können sie die anderen so zu reaktionen zwingen und bestenfalls deren verlegenheit und mangelnde erfahrung offenkundig machen.

so betrachtet ist in der schule ein ähnlicher sozialer mechanismus am werk wie in der hochschule, nur bezieht er sich dort nicht auf die ars amandi, sondern auf sachkenntnis und fähigkeiten des jeweiligen faches: es geht immer darum, einerseits möglichst kenntnisreich und befähigt zu erscheinen, obwohl man es gar nicht ist, was man selber nicht einmal unbedingt erkennen kann, und andererseits die mängel an kenntnissen und fähigkeiten der anderen sichtbar zu machen.

zweifellos waren k. und ich damals eng befreundet, verstanden uns prächtig und verbrachten deshalb viel zeit miteinander, aber wir waren in keiner weise derart aneinander interessiert, wie es der busfahrer unterstellte und die anderen in der klasse offenbar annahmen. wir waren allem anschein nach so verblüfft und konsterniert, dass sich sogar die lehrerin der klasse genötigt fühlte, ein wenig beschwichtigend und beruhigend auf uns einzuwirken.

ich lese eine halbe seite und die assoziationsmaschine in meiner großhirnrinde entfaltet derartige aktivitäten, dass ich die lektüre immer wieder für lange pausen unterbrechen muss. in den meisten fällen kann ich kaum weiterlesen, weil ich zu stark mit den eigenen gedanken und erinnerungen beschäftigt bin, als dass ich genügend aufmerksamkeit hätte, dem fremden text zu folgen. außerdem erscheint es mir zumeist unbedingt notwendig, meine einfälle zu notieren, aus der erfahrung weiß ich nämlich, dass ich mich später ärgern würde, nichts notiert zu haben, es könnte ja wichtig sein. selbst wenn ich mich zunächst zwinge, nichts zu notieren und erst einmal weiterzulesen, finde ich keine ruhe für die lektüre, denn wenn ich nicht an die unterbliebenen notizen denke, wäge ich ab, ob es richtig war, nichts notiert zu haben – und notiere dann eher früher als später doch ausführlich.

so wenig sich über verschüttete milch zu weinen lohnt, so wenig lohnt es, unterlassenen notizen nachzutrauern, aber mein hang zu irrealen konjunktiven lässt sich durch solcherlei vernünftigen einsichten nicht immer zügeln, so dass ich mich zuweilen der spekulation hingebe, wie reich ich heute wäre, wenn ich viel früher begonnen hätte, meine beobachtungen, meine eindrücke und überlegungen niederzuschreiben und wenn ich bei dieser niederschrift viel mehr disziplin an den tag legen würde. so sind mir von der klassenfahrt nach südtirol und venedig neben einigen fotografien nur ein paar alles in allem unzuverlässige erinnerungen geblieben. wenn ich statt dessen einige aufzeichnungen davon hätte, könnte ich die betreffenden blätter hervorholen und wäre sehr viel genauer im bilde. ich könnte daran viel stärker anknüpfen und der große text, an dem ich fortwährend schreibe, würde enorm an dichte gewinnen. andererseits: wer weiß schon, welche bitteren einsichten mir in die grobschlächtigkeit meiner beobachtungen und deren niederschrift mir so erspart bleiben …

1 felicitas hoppe, pigafetta, reinbek bei hamburg 1999, s. 7.

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