die etzoldsche sandgrube lag im leipziger osten auf probstheidaer flur. sie lieferte große mengen kies für den beton zum bau des völkerschlachtdenkmals. der abbau erschöpfte die vorkommen ganz erheblich, nach dem ende des zweiten weltkriegs wurde die grube ganz aufgegeben. als im mai 1968 die universitätskirche st. pauli und die übrigen, teils kriegsbeschädigten universitätsgebäude am augustusplatz gesprengt und abgerissen wurden, verfüllte man die stillgelegte kiesgrube mit den trümmern und schüttete später schließlich sogar einen berg auf. die halde war gesperrt und wurde überwacht. ende der siebziger jahre gelangten auch die trümmer der gesprengten markuskirche aus reudnitz dorthin, ehe wenige jahre später das gelände zu einem park umgestaltet wurde. bis zum ende der ddr blieben die universitätskirche und die erinnerung an sie ein tabu – als hätten die verantwortlichen funktionäre tief im inneren doch ganz genau gewusst, etwas unredliches, unrechtes getan zu haben, auch wenn sie es wohl nicht einmal vor sich selbst zugeben konnten. erst 2010 wurde vermutlich im zusammenhang mit der wiederkehr der sprengung und dem universitätsjubiläum kurz zuvor ein gedenkort mit einer klangistallation gestaltet, die mit ihren verhallenden geräuschen auf die verschwundenen sakralräume verweist.

ich erinnere mich noch gut an die hitzigen debatten um die erinnerung an die universitätskirche und das nach meinem dafürhalten beschämende auftreten des pfarrers zu st. thomas. es war geradezu grotesk, wie ein geistlicher aus baden einem rektor aus hessen vorwarf, er würde die kirchenfeindliche politik der kommunisten fortsetzen. eine alte frau sagte mir seinerzeit nach einer gesprächsveranstaltung, bei der ich mich für den egeraatschen entwurf einschließlich der hochumstrittenen glaswand aussprach, ich müsse doch auch einmal „an uns leipziger denken“. die geradezu dogmatische engstirnigkeit in dieser angelegenheit verstehe ich bis heute nicht. lieber wäre es mir auch gewesen, wenn die kirche nie gesprengt worden und das ganze ensemble am augustusplatz erhalten geblieben wäre. aber ein wiederaufbau, wie er von einer kleinen, aber nachgerade militanten gruppe in den neunziger jahren befürwortet wurde, erschien mir immer unangemessen, weil damit in meinen augen die brüche des vergangenen jahrhunderts auf lange sicht so stark überdeckt würden, dass man sie später einmal sehr einfach würde übersehen und übergehen können. wer sein christentum an die wiedererrichtung eines bauwerks heftet, mit dessen glauben scheint es mir nicht allzu weit her zu sein. der dresdner frauenkirche fehlt eben die patina von einem vierteljahrtausend bestand, sie wirkt wie eine simulation von vergangenheit.

darüber hinaus greift es meines erachtens zu kurz, die universitätstheologie – mit dem beispiel der sprengung st. paulis – als reines opfer der kirchenfeindlichen haltung einer kommunistischen satellitenregierung der sowjetunion darzustellen. diese satellitenregierung ist ja doch 1945 nicht vom himmel gefallen. insofern ließen sich anhand der etzoldschen sandgrube, die erst material für das martialische, deutschnationale völkerschlachtdenkmal („der gott, der eisen wachsen ließ, der wollte keine knechte …“) lieferte und später mit den trümmern der alten leipziger universität verfüllt wurde, wohl einige gedanken über die irrläufe der deutschen geschichte in den letzten zweihundert jahren mit begangener schuld und versäumten gelegenheiten zwischen ost und west, ordnung und vielfalt, herrschaft und freiheit, zwischen den ideen von 1789 und den „ideen von 1914“ anstellen.

allerdings gereicht es weder stadt noch universität zur ehre, dass dieser gedenkort verloren und versteckt inmitten üppig wachsender bäume liegt. man könnte meinen, es sollte möglichst viel gras und mehr als das über die angelegenheit wachsen. nirgendwo fand ich an den straßen ringsum ein hinweisschild, das auf die stätte verweist. ich musste vielmehr eine ganze weile suchen, ehe ich den aufgang fand. zum grund der sandgrube gelangt man schließlich nur über einen trampelpfad durchs unterholz. beschwerlich ist die erinnerung in ostdeutschland.

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ich träumte, mein schulfreund r.g. zeigte mir seine bibliothek. äußerlich war es r.g., aber von seinem wesen und seinen gesten her schien es eher c.n. zu sein. zwei räume bildeten die bibliothek, jeweils ungefähr zwei mal drei meter groß. an den wänden standen regale voller bücher bis zur decke. ich durfte mir einige science-fiction-bände aussuchen; ausgeliehen oder geschenkt – das blieb für den augenblick unklar. ich fragte gerade nach weiteren bänden, als es läutete. wir bemerkten, dass die tür des vorderen raumes in ein klassenzimmer führte, wir konnten sehen, wie die schüler aufstanden und den lehrer begrüßten. schnell schlichen wir uns hinüber zu unseren plätzen und taten so, als seien wir nicht zu spät gekommen.

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als ich erwachte, kam mir in den sinn, dass wir später vielleicht einmal alle, bevor wir sterben, in ein computersystem heruntergeladen werden, wo wir sowohl im virtuellen als auch vermittels avataren in der realität auf eine gewisse weise weiterexistieren können.
ich stelle mir vor, wie ich durch die augen einer kleinen, singvogelgroßen drohne sehen, mit ihrer hilfe durch das pöhlbachtal flussaufwärts dem fichtelberg entgegen fliegen und so ein wenig den eindruck haben kann, dass ich dort tatsächlich wanderte: ein paar dünne wolken, sonst ist der himmel strahlend blau, die wiesen leuchten grün, übersät von maiblumen, die fichtenwälder, die dann vermutlich längst wieder buchenwälder geworden sind, rauschen „haamlich“ wie zu anton günthers alten zeiten. fast meine ich zu atmen und den leichten wind auf meiner haut zu spüren.
und manch einer lässt sich vielleicht sogar auf das abenteuer ein und geht gleichsam „an bord“ einer interstellaren sonde, um einen fernen stern zu erkunden.

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jean ist ein junger mann, der mehr oder weniger in den tag hineinlebt und auf der suche nach historischen stoffen des 19. und 18. jahrhunderts, über die er bücher schreiben möchte, durch paris streift. seine beobachtungen und die ergebnisse seiner recherchen trägt er in ein schwarzes notizbuch ein. so auch die begegnung mit einer ungefähr gleichaltrigen frau, die dannie heißt – oder vielmehr sich ihm gegenüber dannie nennt.
bemerkenswert ist dabei, dass er ihren namen zunächst falsch schreibt und sie daraufhin seinen stift ergreift, um den fehler zu korrigieren: er nimmt sie anders wahr als sie erscheint und erscheinen möchte, sie schreibt ihm nachgerade vor, wie er sie zu sehen hat. das rätsel ihrer identität und seine versuche, aufschluss darüber zu erlangen, bestimmen den fortgang der erzählung.
durch dannie kommt jean in berührung mit einer reihe undurchsichtig-zwielichtiger leute, exilmarokkaner und mitglieder des marokkanischen sicherheitsdienstes, die offenbar mit der ermordung eines politikers aus dem maghreb-staat in verbindung stehen. genau geklärt wird dieser zusammenhang allerdings ebensowenig wie dannies rolle dabei. vermutlich war sie an einem mord beteiligt, der im umfeld der marokkanischen gruppe drei monate vor ihrer begegnung mit dem ich-erzähler jean geschehen ist. womöglich war es auch nur ein unfall, aber gewissheit erhält jean nie – und mit ihm der leser nicht.
gut fünfzig jahre später versucht er klarheit über die rätselhafte frau namens dannie und die verwicklungen zu gewinnen, in die sie verstrickt war. beim erzählen und beim vergegenwärtigen seiner erlebnisse mit ihr geraten ihm immer wieder die zeitebenen durcheinander, zumal in seinem notizbuch nicht allein beobachtungen aus der zeit mit dannie zu finden sind, sondern auch seine recherchen, die er damals über noch länger zurückliegende epochen anstellte. „für mich hat es gegenwart oder vergangenheit niemals gegeben. alles verschmilzt (…)“, stellt er einmal fest, und an anderer stelle heißt es ähnlich, er habe nicht mehr richtig zwischen vergangenheit und gegenwart unterscheiden können.
damit erweist sich das buch als ein, wenn man so will: echter modiano: ein ich-erzähler versucht in der gegenwart, sich klarheit über eine merkwürdige begegnung zu verschaffen, die er in der vergangenheit machte, und über die nicht minder merkwürdigen umstände dieser begegnung. anders ausgedrückt: man wird als leser zeuge eines erinnerungsprozesses – ein mensch versucht, die rätsel seiner vergangenheit zu lösen, aber es gelingt ihm allenfalls mit mäßigem erfolg. geradezu unvermeidlich ist es dabei, dass die großen, mehr oder weniger katastrophalen ereignisse des vergangenen jahrhunderts im schicksal des einzelnen resonanzen erzeugen.
meistens ist der kern der geschichte ein kriminalfall im weitesten sinne: hier ein mord, ein anderes mal ein selbstmord („hochzeitsreise“) oder ein diamantenraub („sonntage im august“). und tatsächlich werden auch immer wieder, gleichsam als referenz an die beliebte literaturgattung, von den hauptfiguren kriminalromane gekauft und gelesen – aber im unterschied zu diesen steht der kriminalfall und seine auflösung keinesfalls im mittelpunkt der erzählung, vieles bleibt ungeklärt, ist bestenfalls vermutet. damit kommt jedoch die modianosche erzählweise der wirklichkeit solcher begebenheiten wohl wesentlich näher als diejenige, die man für gewöhnlich in der kriminalliteratur antrifft. es geht in den büchern des franzosen vor allem darum, wie man aus eher unzusammenhängenden, widersprüchlichen beobachtungen, erlebnissen, erkenntnissen, im nachhinein eine glaubhafte geschichte gestaltet. der leser bekommt dabei eigentlich nichts erzählt, vielmehr ist er nachgerade teil dieses prozesses, als vollziehe er sich in seinem eigenen kopf, als erinnere er sich selbst.
modiano ist insofern ein autor von erinnerungsliteratur, als er den vorgang des erinnerns darstellt. in „gräser der nacht“ zeigt er sein können meisterhaft. so wird das buch auch für den historiker lesenswert, der seinerseits ja so etwas wie ein künstler der erinnerung ist.

patrick modiano, gräser der nacht, münchen 2014.

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ich kann es mir nur so erklären: weil vermeintlich alle anderen hierzulande vermeintlich undifferenziert in kalter-kriegs-manier das verhalten der putin-administration kritisieren, schlägt sich jakob augstein unbekümmert auf die seite moskaus, um eine publizistische gegenmeinung zu äußern und so aufmerksamkeit zu erzeugen.1
vielleicht ist er aber auch auf dem östlichen auge blind? denn wie kann man amerika, ja den ganzen westen2 schlechthin eines unverhohlenen imperialismus zeihen, zugleich aber gänzlich übersehen, dass putins handeln nicht im mindesten weniger imperialistisch geprägt ist, gespeist von überkommenen vorstellungen russischer größe und nichtverarbeiteter phantomschmerzen angesichts eines verlorenen imperiums. der zusammenbruch der sowjetunion sei die größte geopolitische katastrophe des letzten jahrhunderts gewesen, wird putin immer wieder zitiert. die sowjetunion muss man jedoch, zumindest was ihr verhältnis zu ihrer nachbarschaft gleichwie zur welt insgesamt anbetrifft, wohl schlichtweg als die fortsetzung des zaristischen imperialismus mit kommunistischen mitteln betrachten.
augsteins „freitag“ firmiert gern als linke wochenzeitung. darin wird einem ständig vermittelt, das linke beinhalte vor allem eine aufgeklärte, auf das schicksal des einzelnen hin ausgerichtete weltsicht. dann ist es mir jedoch schleierhaft, wie augstein zustimmend und unbekümmert von der ukraine als teil der russischen interessensphäre reden kann. bei dem stichwort fühle ich mich vielmehr an das great game der alten männer erinnert, die auf der karte willkürlich grenzen ziehen, nicht aber an eine emanzipative perspektive auf die welt.
augstein bemüht bismarck: wie das zweite kaiserreich sei russland nach der einverleibung der krim auch saturiert. schwingt da sympathie mit dem autokratischen altmärker mit? das ist nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil sich vor nicht allzu langer zeit alexander gauland bei der vorstellung des ersten außenpolitischen papiers der alternative für deutschland ebenfalls auf bismarck bezog: wie in zeiten des eisernen kanzlers und des alten preußens, solle sich deutschland außenpolitisch stärker an russland binden, denn damit sei es nie schlecht gefahren. „mehr bismarck wagen“ – so ähnlich klingt mir das jetzt auch bei augstein und im freitag.
einen seitenhieb auf die beiden ungeliebten ostdeutschen merkel und gauck kann er sich schließlich nicht verkneifen, wenn er deren gegenwärtige russlandpolitik als traumabewältigung verunglimpft. vielleicht hat er ja recht und ich arbeite mich meinerseits auch nur an einem womöglich dazu noch: eingebildeten ddr-trauma ab. indes, trotz abhörskandal (was macht eigentlich die russische auslandsaufklärung?) bleibe ich dabei: lieber in einer amerikanischen als in einer russischen provinz wohnen.

1 etwa märchen vom irren iwan, in: der freitag vom 06.03.14, s. 1, zuletzt: putin und die ukraine-krise: das falsche feindbild, in: spiegel-online vom 23.03.13, url: http://www.spiegel.de/politik/ausland/augstein-kolumne-putin-und-der-westen-in-der-krim-krise-a-960354.html (letzter zugriff: 23.03.14).

2 besonders verwunderlich ist es dabei, wenn man selbst im westen lebt und immer gelebt hat. das ist dann ungefähr so, wie in deutschland auch immerfort von den „deutschen“ die rede ist, wenn es um das dritte reich und den nationalsozialismus geht, als sei man selbst aber eben kein deutscher, sondern irgend etwas anderes.
kritik am eigenen land ist immer bitter nötig und vermutlich sogar die einzig angemessene form von patriotismus. aber so wenig wie man das handeln der eigenen regierung bedenkenlos beklatschen darf, so wenig darf man sich in der kritik an ihr bedenkenlos die patriotische propaganda der anderen zu eigen machen.
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beim abendspaziergang las ich das werbeschild eines ladens: „filzwerkstatt“. ein paar meter weiter war auf einem stromkasten eine parole geschrieben: „vegan ist trumpf“. während ich weiterlief, dachte ich darüber nach, ob es korrupte veganer geben könnte.
mir fiel indien ein, wo es millionen von vegetariern gibt, und beim stichwort „korruption“ kam mir das wort „bakschisch“ in den sinn. zunächst kasteite ich mich in gedanken ein wenig selbst für den kulturalistischen kurzschluss: vegetarier – indien – korruption. aber so leicht, wie es mir fällt, dem gängigen klischee zu folgen, in indien herrsche korruption (ist dem etwa nicht so? ist dem etwa doch so?), so schwer fällt mir die vorstellung von korrupten veganern: filzveganer, veganerfilz.
überall stehen schilder herum, auf denen irgendetwas behauptet wird: „filzwerkstatt“, „vegan ist trumpf“, …, „in indien geht nichts ohne bakschisch“. aber vor lauter schilderwald gibt es keine bäume mehr zu erkennen. vielleicht gibt es auch nur die schilder mit den behauptungen. dass es gerade mai ist und dass das wetter schön ist – alles nur behauptungen. und was bleibt mir übrig? durch das meer der behauptungen auf einem floß aus schildern zu treiben – und im besten fall: meinerseits ein paar schilder aufzustellen – oder zumindest die vorhandenen schilder („die vorfindlichen schilder“) neu zu kombinieren.

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am 12. märz 1927 starb der vater meines schöche-urgroßvaters: 1927 hört sich noch nicht so schrecklich weit entfernt an – für jemanden, der anfang der 1980er jahre geboren wurde und doch hat dieser friedrich wilhelm schöche viel mehr mit alteuropa als mit meiner gegenwart zu tun. er wäre mir vermutlich nicht wesentlich weniger fremd als jemand, der irgendwo „hinten in der türkei“ wohnt. so gesehen wirft diese diskrepanz zwischen kultureller und historischer entferntheit einerseits und persönlicher nähe andererseits eine reihe von fragen auf, die zu denjenigen zählen, die mich am meisten faszinieren: wie muss die art sich zu erinnern aussehen, die diese spannung zwischen fremdheit und (eingebildeter) vertrautheit zusammenbringt oder wenigstens aushält? letztendlich geht es um die frage, wie sich die transformation jener fremden vergangenheit in meine (scheinbar allzu) vertraute gegenwart vollzogen hat. oder schlichter ausgedrückt: woher komme ich? – manchmal sitze ich in der küche und überlege mir beim essen, wieviele gesten und gewohnheiten ich sozial vermittelt von meinem schöche-urgroßvater paul otto vererbt bekommen habe, wieviel vergangenheit sich also in meiner ureigenen unmittelbaren gegenwart vergegenwärtigt.

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in einer alten rezension, die mir gestern abend beim räumen unter die finger kam, las ich von einem autor, der „schon länger mit einer erzählerstimme, die sich am roman des 19. jahrhunderts (…) orientiert“, arbeite.1
während ich durch den wald von schmalzgrube richtung satzung hinauflief und mit meinen gedanken allein war, erinnerte ich mich an den halbsatz. er hatte mich schon beim flüchtigen überlesen gereizt und als er mir wieder in den sinn kam, wiederholte er sich beim laufen wie ein ohrwurm.
ich fragte mich, warum ich unbedingt eine avantgardistische prosa an den tag legen muss – nur um der modernität wegen? warum sollte ich eigentlich nicht mit einer klassischen erzählerstimme arbeiten, dachte ich. das triviale eines textes liegt weniger an einer konventionellen erzählerstimme als vielmehr an einer unkonkreten, formelartigen sprache und an wenig komplexen, schablonenhaften figuren.

1 lothar müller, das ja-wort …, in: sz vom 22.10.11, s. 17, rezension zu: jeffrey eugenides, die liebeshandlung, reinbek bei hamburg 2011; das zitat bezieht sich auf den irischen romancier colm tóibín.

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am nachbartisch saßen: ein archäologe aus münster, eine geoforscherin aus bulgarien und zwei heimatkundler aus der region. sie unterhielten sich über ihre erfahrungen aus dem kalten krieg mit der teilung europas und den zumutungen der realsozialistischen planwirtschaft. ich hörte unauffällig zu und fand anlass darüber nachzudenken, auf welche weise die beiden wirtschaftssysteme beschrieben werden können.
es mag zwar reizvoll sein, die marktwirtschaft mit sozialistischem und die planwirtschaft mit kapitalistischem vokabular darzustellen, also etwa von „produktivkräften“ oder „angebot und nachfrage“ zu sprechen, aber die gefahr ist immer groß, in vorgezeichnete deutungsmuster zu verfallen, was den erkenntnisgewinn doch erheblich reduziert. schon die differenzierung kapitalismus versus sozialismus bringt ein erklärungsschema hervor, das die zeitgenössischen bewertungen geradezu nach sich zieht.
das wäre keine geschichtswissenschaftliche geschichtsschreibung, sondern zumeist bloße spiegelfechterei, die wohl nicht zu unrecht an scholastische diskussionen erinnert: wieviel engel haben auf einem stecknadelkopf platz? ein anderes, sozusagen drittes vokabular ist notwendig, um die vielfach nach wie vor wirkmächtige frontstellung aufzubrechen und der meistererzählung zu entkommen, so wie sie in der zweiten hälfte des zwanzigsten jahrhunderts und zumal nach dem epochenjahr 1989 („the end of history“) ausformuliert wurde.
mich interessieren zwei fragekomplexe – und zwar in einer globalen und zugleich langfristigen perspektive: (1) wie groß ist der personenkreis, der über die ressourcen, die „produktionsmittel“ und die verteilungswege verfügt? und (2) in welchem umfang verfügt jeder einzelne über sich selbst, das heißt: wie groß sind seine individuellen spielräume?

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wir machten einen spaziergang: eine kleine runde durchs tal zur grenze und über den mittelweg zurück. der anblick einer wildkirsche holte erinnerungen an den aufenthalt am bodensee hervor. das muss ende der neunziger jahre gewesen sein, vielleicht 1998.
1998 als bloße jahreszahl verbinde ich nämlich mit: sommer, wärme, üppiger vegetation, souveränität – thomas mann würde womöglich von lebensfülle sprechen. hingegen ist etwa 1997 irgendwie: böse, gemein, niederträchtig, wenn auch weniger in einem apokalyptischen als vielmehr in einem alltäglichen sinn. 1997 steht für die bosheit, gemeinheit, niedertracht des alltags, die man zwar überleben kann, die einen über die jahre aber schrumpfen und unter den eigenen möglichkeiten bleiben lässt.
ohne mich an einzelne begebenheiten erinnern zu können, mit denen ich diese kleine phänomenologie der jahreszahlen zu belegen vermöchte, will mir 1997 als ein jahr der stagnation, 1998 jedoch als ein jahr der fülle erscheinen: alles ist möglich, es gibt noch eine andre welt – steigt in die schiffe, ihr philosophen …

bei stichworten wie obst, apfel oder kirschbaum denke ich häufig an die schwäbisch-alemannische kulturlandschaft am oberrhein. irgendwie scheinen mir die leute dort einen uneinholbaren vorsprung zu haben gegenüber unsereinem zwischen elbe, mulde und saale oder gar auf dem kamm des erzgebirges: wenigstens ein jahrtausend mehr zivilisation. freilich ist mir klar, dass zivilisation erst einmal gar nichts bedeutet und im allgemeinen eine hülse ist, die sich nach belieben füllen und als „westlich-abendländische zivilisation“ geradezu verschießen lässt.
geschenkt: das west-ost-gefälle von aufklärungs-rezeption in der breite und tiefe, geschenkt: die zweieinhalb generationen mehr diktaturerfahrung, geschenkt, geschenkt – trotzdem bleibt der eindruck von missmutigen, griesgrämigen leuten mit blassen, bleichen kleidungsstücken, denen jede form heiterer gelassenheit nicht nur fremd, sondern nachgerade verdächtig ist.
die vorstellung eines schwäbischen kirsch- oder apfelbaumes ist etwas ganz anderes als die eines sächsischen, im erzgebirge lässt sich so ein empfindliches gartengewächs gleich gar nicht denken – während das bild eines böhmischen kirschbaumhaines schon wieder einen gesitteten reiz entfaltet.
ich weiß, dass meine gedankenverknüpfungen wenig mit klimatischen und auch nicht viel mit sozialgeschichtlichen tatsachen gemein haben, sondern vor allem geprägt sind von der karte in meinem kopf. aber diese karte teile ich ja mit meinem übellaunigen kameraden. uns fehlt die nähe roms, wir hätten prag als ersatz haben können, aber ängstlich ließen wir es sich nie entfalten – zu unserem eigenen schaden und zwar nicht erst 1968 oder 1938 und auch nicht erst 1848, sondern schon 1618, ja 1415.

in meinen garten hatte ich vor jahren einen schwäbischen nussbaum gepflanzt: er treibt zwar jahr für jahr beharrlich neue blätter, aber jedes mal erwischt ihn ein später frühjahrs-nachtfrost und hindert ihn daran, zu einem richtigen baum heranzuwachsen, er bleibt ein strauch und früchte wird er wohl nie tragen.

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