als ich das hörsaalgebäude verließ, kam mir auf der treppe zur fahrradtiefgarage eine junge frau entgegen: schlank, lange, dunkle haare, große nase. hübsch, dachte ich im vorübergehen. allein ihre rosaroten segeltuchschuhe irritierten mich ein wenig. aber ich würde ihr ohnehin kein zweites mal begegnen, also brauchte ich mir auch nicht den kopf darüber zu zerbrechen, wie ihre zurückhaltend elegante erscheinung zu den schuhen in der unterstellten oder vielmehr anerzogenen lieblingsfarbe junger mädchen passen sollte. wie überrascht war ich, als sie mich lächelnd grüßte. offenbar kannte sie mich – aber mir fiel nicht ein, woher ich sie kennen sollte. asymmetrische, sozusagen: schiefe kenntnislagen verunsichern mich. dieses mal überwog jedoch die stille freude darüber, dass mich eine frau, die ich auf den ersten blick anziehend finde, kennt und grüßt. ein großes erlebnis für jemanden, der von sich meint, übersehen zu werden – und zwar mit durchaus guten gründen, weil ihm eine wohlwollende freundin gelegentlich einmal eröffnete, in der tat falle er nicht sofort auf, vielmehr müsse man ihn erst entdecken.

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während ich beim friseur warte, bis stuhl und schere frei sind, klingelt das telefon des salons – und ich zucke unwillkürlich zusammen, obwohl es mich gar nicht betreffen kann. das schrille telefonklingen ist ein schrecksignal ersten ranges, ich argwöhne bei jedem telefonanruf schlimmste nachrichten, die meinen alltag grundstürzend über den haufen werfen und mir den boden unter den füßen entziehen. wenn ich stark angespannt bin, passiert es dann zuweilen, dass ich schlichtweg jede kommunikation verweigere. das ist dann zwar keine lösung des tiefersitzenden problems, aber ich erringe zumindest einige freiräume, die ich zur (selbst-) beruhigung brauche.

manchmal wünsche ich mir einen knopf, mit dessen hilfe ich den lauf der welt anhalten kann, damit ich in der lage bin, erst einmal die stapel auf dem schreibtisch ab- und aufzuarbeiten und mich so wieder freizuräumen, ehe ich den knopf neuerlich drücke und auf der höhe der (angehaltenen) gegenwart wieder eintrete.

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in a. hängen an den laternenmasten werbeplakate für eine „ü-25-party“. in leipzig habe ich so etwas zwar auch schon gesehen, aber sehr selten, dort hängen regelmäßig plakate für ü-30-parties. offenbar sind in der großstadt die singles älter – oder anders ausgedrückt: die (sozioökonomischen) rahmenbedingungen,1 der wunsch und der soziale druck, eine dauerhafte partnerschaft einzugehen, wächst auf dem land fünf jahre früher auf ein solches maß wie in der großstadt. das hängt mit den längeren ausbildungszeiten zusammen; abiturienten vom land gehen in die stadt und studieren dort, im vergleich zu ihren altersgenossen mit einer mittleren reife und einer lehre summieren sich da wenigsten sieben jahre verzug bis zum berufseinstieg. hinzu kommen im urbanen kontext ferner ein höheres maß an emanzipation, vor allem bei jungen frauen, eine stärkere reflexion traditioneller familienbilder und rollenmuster des sozialen geschlechts sowie in der folge eine größere liberalität bei abweichendem sexuellen und damit verbundenem sozialen verhalten. außerdem bieten sich in der großstadt durch die größere menge potentieller partner mehr möglichkeiten, einen partner zu finden und dementsprechend nach dem abbruch einer beziehung auch mehr möglichkeiten, wieder einen neuen partner zu finden, das heißt, die kosten, eine beziehung abzubrechen, sind auf dem land höher als in der stadt. das alles führt dazu, dass es in der stadt erst fünf jahre später als auf dem land zu einem ernstzunehmenden problem wird, noch single zu sein und keine familie gegründet zu haben: die ü-25-parties auf dem land würden sich in der stadt ebensowenig lohnen wie die ü-30-parties auf dem land. – aber vermutlich ist alles ganz anders.

1 früherer, wenn auch zumeist weniger hoher bezug regelmäßigen einkommens, niedrige lebenhaltungskosten, leichterer zugriff auf die infrastruktur der eigenen herkunfstfamilie (unterkunft, lebenshaltung, zeitmanagment).

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die ich-erzählerin in felicitas hoppes reiseerzählung „pigafetta“ schwärmt von ihren klassenfahrten.1 ich habe erst knapp eine halbe seite des buches gelesen und bin schon wieder so stark in eigenen gedanken und erinnerungen gefangen, dass ich nicht weiterlesen kann. so ergeht es mir immer, so gelange ich auf keinen grünen zweig, weil ich kaum vorankomme – bei allem, was ich lese, und in der folge auch bei den verschiedenen textprojekten, die mir mehr oder minder klar vor augen stehen oder die ich im hinterkopf mit mir herumtrage.

ich mochte keine klassenfahrten, ich war erst auf der heimreise wieder einigermaßen entspannt. u. mag das als beleg für meine reisefaulheit betrachten. aber es ist komplizierter: ich mochte deshalb klassenfahrten nie, weil es an den jeweiligen unterkünften keine rückzugsmöglichkeiten gab. immer und überall ist man der gruppe und der ständigen beobachtung ausgesetzt. wo ich es irgend kann, vermeide ich bis auf den heutigen tag so eine totale kollektivität. sobald ich einen raum habe, dessen tür ich schließen kann, wann ich es will, und in dem ich allein schlafen kann, also in diesem schutzlosen zustand keinerlei beobachtung ausgesetzt bin – in so einem fall sähe ich einer reise weitaus entspannter entgegen und wäre viel leichter zu einer reise zu bewegen.

was über die verfügbarkeit eines eigenen raumes (a room for myself) lediglich noch erschwerend hinzu kommt, ist die tiefsitzende überzeugung, keine zeit und keine berechtigung für reisen zu haben, weil ich eigentlich wichtigeres zu tun hätte und die reise deshalb mir erscheinen muss wie ein stück luxus, das mir im grunde genommen nicht zusteht – allerdings kümmere ich mich dann doch nicht um wichtigeres, sondern lebe vor mich hin wie gehabt und hätte folglich auch reisen können. da ich zum denken in alternativen szenarien neige, spekuliere ich zuweilen, wie mich eine reise verändern würde; indem ich auf erfahrungen mit den wenigen kurzen reisen oder eher: ausflügen und exkursionen zurückgreife, die ich hin und wieder dann doch unternehme, liegt der schluss nahe, dass mir häufigere reisen, also unterbrechungen der alltäglichen routine, gut täten, weil sie mir neue perspektiven eröffneten, nicht zuletzt auf mich selbst, und es mir so ungemein erleichtern würden, veränderungen im alltag zu erreichen, das heißt vor allem, den herausforderungen des tages und der stunde beherzter zu begegnen.

genau genommen ist es auch hier wieder eine frage der souveränität: weitaus wirkungsvoller wäre es, statt auf einem eigenen raum zu bestehen, so einen raum im inneren zu entwickeln, eine gelassenheit oder gleichgültigkeit gegenüber den (vielfach nur unterstellten, in jedem fall aber immer möglichen) beobachtungen der anderen. dabei müsste diese souveränität in der gewissheit des eigenen und seiner stabilität wurzeln.

beim stichwort „klassenfahrt“ empfinde ich sofort unbehagen. und obwohl sie alle derart emotional aufgeladen waren und ich mich eigentlich lebhaft erinnern müsste, fällt mir zumeist lediglich das bild einer kleinen kirche im südtiroler klausen ein: der verblichene, fleckige putz der kirche und die strahlenden blüten eines recht üppigen rosenstrauchs, der auf der rechten seite des gemäuers nach oben klettert. ich erinnere mich, wie wir von dort aus weiter nach venedig fuhren, wo ich mich mit n. s. in der serrenissima verlief, aber eine wirklich tiefe freude dabei empfand, erkundend durch die stadt zu streifen. wenn ich es genau bedenke, suche ich bei allen reisen und ausflügen die wiederholung dieser empfindung. zumeist gelingt das zwar, es setzt aber erstens einige vorbereitungen voraus, damit ich wenigstens ungefähr weiß, wohin ich mich wenden muss, um bei den erkundungen beobachtungen zu machen, die ich in beziehung setzen kann. und zweitens ist damit eine gewisse individualität verbunden, zu große und dichte begleitung würde nur ablenken.

schließlich erinnere ich mich noch an eine szene während der rückfahrt von südtirol: der busfahrer bedankte sich und fasste die reise auf launige weise noch einmal so zusammen, wie sie sich ihm vermittelt hatte. neben dieser und jeder anekdote schien er vor allen dingen feststellen zu müssen, dass sich ein pärchen gefunden habe – nämlich k. p. und ich. dies wurde mit einem derart johlenden beifall aufgenommen, wie er wohl typisch ist für sechzehnjährige, die sich zwar für äußerst aufgeklärt und abgebrüht halten, tatsächlich aber vielfach noch sehr befangen, um nicht zu sagen: verklemmt sind, und die jede sich irgend bietende gelegenheit nutzen, um die sprache aufs sexuelle zu bringen (und weniger auf das erotische), damit sie sich selbst als ausgebufft und den anderen in dieser hinsicht weit überlegen inszenieren können, ohne sich die blöße geben und offenbaren zu müssen, wie wenig erfahrung sie eigentlich besitzen, wie verlegen sie im grunde genommen sind. zugleich können sie die anderen so zu reaktionen zwingen und bestenfalls deren verlegenheit und mangelnde erfahrung offenkundig machen.

so betrachtet ist in der schule ein ähnlicher sozialer mechanismus am werk wie in der hochschule, nur bezieht er sich dort nicht auf die ars amandi, sondern auf sachkenntnis und fähigkeiten des jeweiligen faches: es geht immer darum, einerseits möglichst kenntnisreich und befähigt zu erscheinen, obwohl man es gar nicht ist, was man selber nicht einmal unbedingt erkennen kann, und andererseits die mängel an kenntnissen und fähigkeiten der anderen sichtbar zu machen.

zweifellos waren k. und ich damals eng befreundet, verstanden uns prächtig und verbrachten deshalb viel zeit miteinander, aber wir waren in keiner weise derart aneinander interessiert, wie es der busfahrer unterstellte und die anderen in der klasse offenbar annahmen. wir waren allem anschein nach so verblüfft und konsterniert, dass sich sogar die lehrerin der klasse genötigt fühlte, ein wenig beschwichtigend und beruhigend auf uns einzuwirken.

ich lese eine halbe seite und die assoziationsmaschine in meiner großhirnrinde entfaltet derartige aktivitäten, dass ich die lektüre immer wieder für lange pausen unterbrechen muss. in den meisten fällen kann ich kaum weiterlesen, weil ich zu stark mit den eigenen gedanken und erinnerungen beschäftigt bin, als dass ich genügend aufmerksamkeit hätte, dem fremden text zu folgen. außerdem erscheint es mir zumeist unbedingt notwendig, meine einfälle zu notieren, aus der erfahrung weiß ich nämlich, dass ich mich später ärgern würde, nichts notiert zu haben, es könnte ja wichtig sein. selbst wenn ich mich zunächst zwinge, nichts zu notieren und erst einmal weiterzulesen, finde ich keine ruhe für die lektüre, denn wenn ich nicht an die unterbliebenen notizen denke, wäge ich ab, ob es richtig war, nichts notiert zu haben – und notiere dann eher früher als später doch ausführlich.

so wenig sich über verschüttete milch zu weinen lohnt, so wenig lohnt es, unterlassenen notizen nachzutrauern, aber mein hang zu irrealen konjunktiven lässt sich durch solcherlei vernünftigen einsichten nicht immer zügeln, so dass ich mich zuweilen der spekulation hingebe, wie reich ich heute wäre, wenn ich viel früher begonnen hätte, meine beobachtungen, meine eindrücke und überlegungen niederzuschreiben und wenn ich bei dieser niederschrift viel mehr disziplin an den tag legen würde. so sind mir von der klassenfahrt nach südtirol und venedig neben einigen fotografien nur ein paar alles in allem unzuverlässige erinnerungen geblieben. wenn ich statt dessen einige aufzeichnungen davon hätte, könnte ich die betreffenden blätter hervorholen und wäre sehr viel genauer im bilde. ich könnte daran viel stärker anknüpfen und der große text, an dem ich fortwährend schreibe, würde enorm an dichte gewinnen. andererseits: wer weiß schon, welche bitteren einsichten mir in die grobschlächtigkeit meiner beobachtungen und deren niederschrift mir so erspart bleiben …

1 felicitas hoppe, pigafetta, reinbek bei hamburg 1999, s. 7.

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als ich chemnitz vor mir liegen sah im zarten frühlingsgrün, beleuchtet vom abendlicht, umgeben von sanft bewaldeten bergen, kam mir der gedanke: lieblich ist es, das erzgebirge. besonders in solchen momenten bin ich einerseits ganz beseelt davon, mit dem erzgebirge einen schatz oder die möglichkeit eines schatzes zufälligerweise und ganz unverdientermaßen vom umstand meiner geburt her in den schoß gelegt bekommen zu haben. und andererseits fürchte ich dann zugleich, mir könnte irgendjemand das erzgebirge oder vielmehr meine erzgebirgs-expertise vor der nase wegschnappen, die einstweilen zwar immer noch mehr die möglichkeit einer kennerschaft als tatsächliche kennerschaft ist, zu der ich aber die besten voraussetzungen habe, denn zu welcher kennerschaft sollte ich sonst berufen und noch berechtigter sein? freilich ist berechtigung das eine – und befähigung das andere. aber befähigung vermag man sich noch eher zu erwerben als berechtigung.
ich weiß auch nicht, wann meine erzgebirgs-begeisterung begann. einerseits habe ich die vorstellung, dass sie schon immer da gewesen ist, solang ich mich erinnern kann, zumindest erinnere ich mich an geschichten aus den neunziger jahren, die eine art geopoetischer fingerübung am beispiel des erzgebirges waren: amalgamierungen aus popkulturelementen und abseitigen aspekten der lokalen vergangenheit. andererseits scheint sie mir erst aus der leipziger distanz bewusst geworden zu sein, wo ich zwar nicht ausschließlich auf das erzgebirge reduziert wurde, aber wo ich, geradezu notwendigerweise, stärker als zuvor damit in zusammenhang gebracht wurde und meine identität zu einem nicht unbeträchtlichen teil daraus ableitete oder darauf bezog. vielleicht ist beides gleichermaßen unzutreffend wie es zutreffend ist.
aber bei allen unternehmungen, die mir in den sinn kommen und die ich beginnen will, setzen hemmungen und beklemmungen ein, die stärker werden, je länger sie währen und ein beginnen immer weiter erschweren. ich fürchte in jedem fall, ganz gleich wie er beschaffen sein mag, in der begegnung mit dem in frage stehenden gegenstand könnte sich meine mittelmäßigkeit und unzulänglichkeit ein für alle mal und unabweisbar herausstellen. ich fürchte, die begeisterung zu verlieren und nicht genügend zähigkeit aufbringen zu können, um die enttäuschungen während der arbeit zu ertragen und die schwierigkeiten zu meistern, die sich unweigerlich einstellen. dabei kann ich mir kaum etwas erfüllenderes vorstellen als immerzu zu lesen und zu schreiben – erst recht wenn es um das erzgebirge geht. aber ich fürchte meinen erwartungen nicht zu genügen und diese furcht kann mir niemand durch ein noch so schmeichelhaftes lob nehmen, das ich ohnehin bloß für eine geste der höflichkeit, wenn nicht gar des mitleids halten würde. ich fürchte, dass mich die lektüre ermüdet statt dass sie ermuntert weiterzumachen. ich fürchte der mühsal nicht gewachsen zu sein und die langwierigkeit nicht zu ertragen. aber am meisten fürchte ich, dass jemand auftritt und genau das tut, was ich tun möchte – und mir so beweist, dass ich es hätte tun können, wenn ich nur begonnen und nicht mehr aufgehört hätte.
skrupulös? ohne zweifel. es ist ein kreuz.

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abends begegnete mir eine junge frau mit schwarzen haaren, die sie hochgesteckt hatte, so dass der blick auf ihren hals mit dem haaransatz frei war. ich sah sie erst nur von hinten, ihre schultern und ihren rücken in einem weißen, spitzenähnlichen gewand. später streifte ich ihren blick und im streifen ihres blickes blieb ich hängen an ihren dunklen augen, augen, in denen man sich verlieren und wiederfinden kann.
sie bemerkte offenbar, wie ich ihr in die augen sah, und sie sah mich an, vermutlich mehr verwundert als interessiert, denn mehr als einen flüchtigen gruß zum abschied tauschten wir nicht. da waren ihre zähne und ihre lippen schon dunkelrot vom wein gefärbt. dieser anblick und eindruck irritierte und verunsicherte mich und ließ mich ein wenig zurückschrecken vor ihr, obwohl ich mich für dieses zurückschrecken schämte und noch jetzt schäme, wo ich doch so hingerissen war von dem haaransatz auf der rückseite ihres halses und fast ein wenig überwältigt war von der sogkraft ihrer augen. es drängt sich mir auf, ihr gesicht sinnlich zu nennen oder es zu beschreiben als geprägt von einer natürlichen sinnlichkeit, wohl wissend, dass ich mir als leser solcher schilderungen alles und nichts vorstellen könnte, und auch im bewusstsein, ganz abgesehen von der beliebigkeit und inhaltsleere der bezeichnung natürlicher sinnlichkeit damit längst die darstellung von eindrücken aufgegeben zu haben zugunsten der projektion eigener sehnsüchte.
sie unterhielt sich den ganzen abend mit einem jungen mann, gegenüber dem ich mir vielleicht nicht gerade wie ein graues mäuslein vorkam, das sich zuviel herausgenommen hätte, wenn es forsch in die unterhaltung eingetreten wäre, aber gegenüber dem ich doch zumindest nicht recht satisfaktionsfähig erscheinen musste. womöglich, ja wahrscheinlich ist dieser selbsteindruck alles andere als zutreffend, jedoch ist die gelegenheit verstrichen, ihre bekanntschaft zu machen – um ihr vielleicht später einmal vom reiz des haaransatzes auf der rückseite ihres halses zu erzählen und zu schwärmen von der überwältigungswirkung ihrer augen. diesem reiz und dieser wirkung war ich jedenfalls längst erlegen und wenn ich mir dies ins gedächtnis rufe, empfinde ich eine tiefe gelassenheit.

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der literaturkritiker werner fuld, der in seinem buch über verbotene bücher eine generalabrechnung mit der so genannten ddr-literatur vornimmt (kurzum: was in der ddr erschien, ist – aus äthetischen gründen – keine literatur, sondern allenfalls lebenshilfe und ratgeber gewesen) beweist wieder einmal den umstand, dass der kalte krieg im westen des landes eine ost(mitteleuropa)blindheit erzeugt hat. ähnlich wie altbundesrepublikanische historiker vom schlage stürmer, winkler, wehler („fußnote“) ist allem anschein nach fulds wirklichkeitswahrnehmung von den kategorien der frontstellung aus der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts geprägt.
wenn er das kriterium „ästhetik“ anlegt, verwendet er dabei letzten endes nur eine art methodischer black box, die es unmöglich macht, seine urteile nachzuprüfen, und statt dessen dazu zwingt, seine generalisierung auf treu und glauben hinzunehmen. fulds analyse ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil er von einem absoluten zensurbegriff ausgeht und dabei in keiner weise zu berücksichtigen scheint, wie dynamisch sich die zensur in der ddr entwickelt hat und wie vielgestaltig die strategien von autoren und verlagen war, mit der zensur umzugehen.
es ließe sich mit gleicher polemik eine gegenthese formulieren (die zwar auch nicht uneingeschränkt zutrifft, aber immerhin wissen wir mit martin walser, dass nichts ohne sein gegenteil wahr ist): weil der autor sich der zensur bewusst ist, wird er zu ästhetischen anstrengungen gezwungen, mit dem ihm möglichen mitteln dinge zu sagen, die eigentlich nicht gesagt werden können (oder dürfen), und zwar so zu sagen, dass sie verstanden werden können, aber nicht verstanden werden müssen. man ist versucht, an das schlagwort „postmoderne“ zu denken, wenn es inzwischen nicht ebenso zu einer phrase geworden wäre, die alles und zugleich nichts bedeutet.
literatur hat immer eine lebensrettende funktion; literarische texte, die lediglich äthetischen anforderungen genügen, haben keine relevanz – aber das ist nur eine theoretische annahme, weil sich kein literarischer text denken lässt und sei er noch so artifiziell, der lediglich ästhetisch ist und darüber hinaus keine wirkung entfaltet, durch die lektüre keinen wie auch immer gearteten und wie auch immer gerichteten denkprozess auslöst.
werner fulds buch ist einzuordnen in die reihe publizistischer unternehmungen seiner generation, die bundesrepublik aus der nachträglichen sicht in einem unanständigen schwarz-weiß-schema zu rechtfertigen, die jede kritische nachfrage und jeden wunsch nach einer differenzierten betrachtung als ddr-verklärung delegitimieren soll. dabei versperrt diese art akademischer westalgie gerade den blick auf den entscheidenden unterschied zum regime im osten: die fähigkeit des demokratisch verfassten systems zur beständigen selbsterneuerung, die in seiner struktur angelegt ist.
in fulds lesart wäre nicht nur jede literarische veröffentlichung aus ostmitteleuropa mindestens seit dem ende des zweiten weltkrieges mit der errichtung volksdemokratischer sowjetischer satellitenstaaten wertlos und dementsprechend über ein kurzes vergessen, sondern auch etwa die ganze literatur des inneren exils oder beispielsweise texte wie ernst jüngers parabel auf den marmorklippen. das vorhandensein von zensur als literarisches bewertungskriterium in ästhetischer hinsicht ist erst recht absurd, wenn man etwa das 19. jahrhundert oder gar die frühe neuzeit betrachtet. in leipzig war im 18. jahrhundert zum beispiel jedes buch erhältlich, auch wenn es in dresden auf dem index des oberkonsistoriums stand und was in leipzig nicht gedruckt werden konnte, wurde in halle gedruckt. yiwu lius interviewbuch über fräulein hallo und den bauernkaiser, das die soziale realität der gegenwärtigen chinesischen gesellschaft beschreibt, besäße mit fuld ebensowenig literarischen wert, zumindest in dem umfang, in dem es in gekürzter fassung in der volksrepublik erschienen ist.
je weiter man den blick ausdehnt, desto offensichtlicher wird, dass fuld eher eine kampagne unternommen hat und durch eine polemische provokation aufmerksamkeit produzieren möchte, als einen redlichen versuch über verbotene bücher im allgemeinen und die literarische qualität der in der ddr oder unter welcher art von zensur auch immer veröffentlichten literatur zu wagen.
zur ehrenrettung fulds möchte man einschränken, dass er nicht nur über verbotene bücher in der ddr geschrieben, sondern eine universalgeschichte des verfolgten und verfemten von der antike bis heute vorgelegt hat, aber dieser umstand kann eben nicht recht zur ehrenrettung dienen, weil so ein generalisierender blick derart verzerrend wirkt, dass man ihn nicht ernstnehmen kann: wer wollte mit gleicher genauigkeit über die zensur in mailand, florenz, venedig im 16. jahrhundert wie über verbotene bücher im ptolmäischen ägypten schreiben können?
es ließe sich zu meinen anmerkungen zweierlei einwenden: einmal reagiere ich lediglich auf ein interview mit fuld statt mich mit seinem buch auseinanderzusetzen und handle damit auf eine verkürzende, selbstemporungssüchtige weise, die ich beklage und, das ist der andere punkt, ich verstehe fuld offenbar bewusst falsch oder zumindest ungenau verkürzt, um wieder einmal mein lamento über das fehlen des ostens im diskurs anzustimmen. das kann ich nicht ganz von der hand weisen: mir geht es in erster linie nicht um fulds buch und dessen mängel, sondern ich nutze lediglich die gelegenheit, um für eine differenzierte, differenziertere betrachtung der deutschen teilung zu werben. und immerhin liegt es auf der hand, mit welch grober münze fuld in dem interview austeilt; auch wenn das buch abgewogener sein mag, das interview ist zugespitzt und ich kann es, einmal gehört, aus meinem mitteldeutsch-mitteleuropäischen blickwinkel nicht unwidersprochen stehen lassen.
im übrigen bin ich einstweilen nur nur in der lage, bemerkungen zu machen und allenfalls noch wege und vorgehensweisen skizzieren, weil mir fürs erste die zeit fehlt, meine einwände ins einzelne auszuführen, vielleicht finde ich nie die gelegenheit, den sachverhalt hinreichend genau darzustellen, vielleicht sind meine erwartungen grundsätzlich zu hoch, sowohl an mich wie auch an die debattenteilnehmer überhaupt. aber die alternative, statt dessen eben schlichtweg zu schweigen, erscheint mir ebenso unredlich.

1 werner fuld, das buch der verbotenen bücher. universalgeschichte des verfolgten und verfemten von der antike bis heute, bln. 2012. interview mit werner fuld im deutschlandradio kultur vom 19.04.12 (url: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1734518/, letzter zugriff: 19.04.12).

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der moderator der liederbestenliste träumt von einer welt, die menschen erfordert, wie sie nicht sein können. die vorgestellten lieder treten im modus der empörung auf, als wüssten die liedermacher, wie es wirklich ist. aber offenbar kennen sie den menschen gar nicht so genau, denn sie machen sich wohlfeile systemkritiktopoi zu eigen, die jedoch letzten endes keine analyse darstellen, sondern nur affirmatives geschwafel sind: die da oben kungeln alle und wir hier unten müssen schuften. (und wie bei rechenaufgaben im kleinen einmaleins, die bis zum umfallen geübt wurden, muss die lösung gar nicht mehr formuliert werden, die hat schon jeder im kopf: lasst uns hier unten kungeln gegen die schufte da oben.)
wenn ich derlei höre, sehe ich im unter- oder hintergrund immer die volksgemeinschaft herumgeistern, die vorstellung, es gäbe jenseits der interessen einzelner eigennütziger gruppen von da oben einen volkswillen, dem es bloß zum ausdruck und durchbruch zu verhelfen gelte. es findet in solchen liedern ja nicht einmal eine weltbeschreibung statt, wie es karl marx den alten philosophen vorwarf, es werden nur phrasen gedroschen. immer mit dem dreschflegel aufs gleiche stroh: eins, zwei drei, eins, zwei, drei, … so dient die aufführung der eigenen empörung der rechtfertigung des eigenen daseins, aber niemand wäre durch das brüllen von parolen gerechtfertigt: ich skandiere, also bin ich. so lässt sich keine veränderung bewirken. wer sich empört, kann nicht genau hinschauen, weder auf die welt, die ihn umgibt, noch auf die welt, die er in sich trägt.
ich habe natürlich keine ahnung. so genau ich auch selber hinzusehen vermag, weiß ich doch in jedem augenblick, in dem ich genau hinzusehen versuche, dass ich noch genauer hinsehen müsste, um die spur einer ahnung zu haben. je genauer ich hinsehe, desto deutlicher wird mir meine unfähigkeit zur genauigkeit. sätze wie „wir sind vasallen der usa“ empören wiederum mich und ich bin hingerissen zu erwiderungssätzen wie: besser in einer amerikanische weltprovinz leben als in einer russische satrapie hausen, aber in so enger nähe zu hans-ulrich wehler und heinrich august winkler fühle ich mich auch nicht unbeschwert wohl, geschweige denn beheimatet.
was sagt es über mich aus, wenn mich sowohl artikel aus der frankfurter allgemeinen als auch solche aus der tageszeitung zum widerspruch zwingen? mag sein, dass ich nicht mit ausreichend feinem strich zeichnen kann, vielleicht kann niemand mit solcher genauigkeit den stift führen, dass ich keinen widerspruch empfände, aber ich weiß ganz genau, wann unredlich eine allzu grobe linie geschwungen wird. ich schwanke so sehr, ich trage selbst so viele gegenteile und widersprüche in mir, dass mir nichts ganz und gar fremd bleibt, solange es genau und redlich auf- und ausgeführt ist. früher habe ich die unredlichkeit erst nicht bemerkt, sondern bin davon ausgegangen, dass jeder, der sich am diskurs beteiligt, auch so gut es geht so genau es geht dar- und klarlegt, was er sieht und empfindet. dann war es mir zu anfang egal, als mir aufging, wie leicht- und gutgläubig meine auffassung gewesen war. inzwischen empören mich solche unaufrichtigen weltbeschreibungen. aber einstweilen fehlen mir die mittel und der mut, dem widerspruchszwang, den ich empfinde, ausdruck zu verleihen.

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als ich die daten, die ich gestern aus den kirchenbüchern in j. entnahm, in den zettelkasten übertrug, stellte ich fest, dass der morgenstern-urgroßvater meines morgenstern-urgroßvaters am 27. mai 1848 gestorben war. nachdem ich kurz nachgeschlagen hatte, wann die nationalversammlung in frankfurt zusammengekommen war und demzufolge die wahlen dazu ungefähr stattgefunden haben mochten, konnte ich davon ausgehen, dass er der erste meiner morgenstern-vorfahren war, der an einer (halbwegs) freien wahl teilgenommen hatte, teilnehmen konnte – kurz bevor er starb. das ist in zweierlei hinsicht bemerkenswert: zum einen angesichts der tatsache, dass er vier jahre vor der revolution in frankreich geboren wurde, also noch ein kind des ancien regimes war – und zum anderen, wenn man bedenkt, dass der enkel seines enkels erst siebzig jahre alt werden musste – die biblische spanne eines menschenlebens – ehe er am 18. märz 1990 zum ersten mal in seinem leben an freien wahlen teilnehmen konnte, wo er doch im selben jahr geboren wurde, in dem die verfassung von weimar geltung erlangte. in das individuelle heruntergebrochen und bezogen auf die dimensionen eines menschenalters lässt sich die tragik erst richtig ermessen, die in der weitläufigkeit jenes „langen wegs nach westen“ liegt: selbst ich als urenkel des urenkels jenes 1848 gestorbenen christian andreas bin noch in unfreien verhältnissen geboren worden – oder zumindest in solchen verhältnissen, die niemand freiheitlich zu nennen vermag.
erst kürzlich kam mir beim einschlafen in den sinn, mich der neueren geschichte seit der französischen revolution, also dem langen neunzehnten und dem kurzen zwanzigsten jahrhundert, im modus der familiengeschichte anzunähern. so verhelfe ich mir zu einem standpunkt, der zwar womöglich leichter anzufechten ist als eine streng wissenschaftliche perspektive, der aber zugleich auch leichter zu rechtfertigen zu sein scheint. jedenfalls gelange ich auf diese weise zu einer motivation, die sich gleichsam selbst erneuert und die es mir ermöglicht, mich kundig zu machen. zugleich bin ich überzeugt, dass ich zu einsichten komme, die weniger subjektiv sind, als es so ein individueller familiengeschichtlicher zugriff erscheinen lässt. beispielsweise ist mit der aktuellen beobachtung beim eintrag in den zettelkasten die frage verbunden, wie das wahlprozedere zur frankfurter nationalversammlung in sachsen und im erzgebirge aussah und welcher abgeordnete gewählt wurde. die antworten darauf wiederum können die grundlage für einen beitrag zur demokratisierungsgeschichte des erzgebirges, zur geschichte der erzgebirgischen zivilgesellschaft bilden. so berühren sich das große und das kleine.
t. b. hat mich unlängst auf die aktivitäten des vereins borussia aufmerksam gemacht, der die beschäftigung mit der regionalen identität in ostpreußen und mit der dortigen landesgeschichte zum anlass nimmt, die zivilgesellschaft in der gegenwart zu stärken. in gewisser weise, so ging mir auf, ist es mir mit dem erzgebirge in seinem mitteldeutschen-mitteleuropäischen rahmen um dasselbe zu tun: aus der auseinandersetzung mit der vergangenheit der gegend impulse zu erzeugen für die entwicklung und pluralisierung ihrer zivilgesellschaft in der gegenwart auf die zukunft hin.
der neueren geschichte kann ich nicht mit der nüchternen gelassenheit eines gelehrten entgegentreten, weil mich ihre verwicklungen unmittelbar berühren – das ist der unterschied zur frühen neuzeit. zwar sind meine fragestellungen dort auch wesentlich bestimmt von meiner regionalen herkunft, aber das erkenntnisleitende interesse ist weitaus objektiver: es geht um die regionale identität als invented tradition, um den zusammenhang von bildungs- und wirtschaftsgeschichte im hinblick auf innovation, industrialisierung und lokale strategien zur bewältigung ökonomischer krisen, schließlich um die dekonstruktion borussisch geprägter sächsicher landesgeschichtsschreibung. seit einiger zeit kommt noch eine lesart der böhmischen geschichte als ostmitteleuropäischer gesellschaftlicher modernisierung hinzu, die zwar immer wieder gescheitert ist, doch aber nie so ganz. mit dieser letzten, jüngsten perspektive relativiert das dogma eines west-östlichen entwicklungs- und fortschritsgefälles doch ganz erheblich.
in meinen abendstunden träume ich zuweilen von einer republik im zentrum europas um prag herum, einer republik wie derjenigen der vereinigten niederlande oder der schweizer eidgenossenschaft. mir will diese alternative aus dem jahr 1618 als die bessere, glücklichere für das erzgebirge und für sachsen erscheinen. zumindest wäre christian andreas damit womöglich nicht der erste gewesen in der familie, der die möglichkeit hatte, an einer freien wahl teilzunehmen.

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hinter dem gwz lief an mir g. w. vorbei, wir sahen uns kurz an, einen moment länger als man sich im vorübergehen normalerweise ansieht, liefen aber ohne ein wort zu sagen in entgegengesetzten richtungen weiter. was sollte sie auch sagen: sie weiß ja nichts von meiner begeisterung für sie – oder vielleicht eher für meine idee von ihr. und was sollte ich sagen: bist du nicht g.w.? ich bin seit jahren von dir fasziniert und möchte dich gern kennenlernen… so ein satz hätte in ihren ohren – völlig zurecht – bizarr gewirkt und der satzsprecher gleich dazu. ich kann nicht ganz und gar von mir weisen, dass es mir nicht auch um die anbahnung einer intimen beziehung gehen würde, zumindest die möglichkeit dieser entwicklung macht die ganze angelegenheit schillernder. aber zunächst und vor allem geht es mir um eine nähere bekanntschaft: ich möchte sie kennen, ihr wesen, ihre sicht der welt, ihre vorstellungen von der zukunft, … – und sie soll mich kennen, mein wesen, meine sicht der welt, meine vorstellungen von der zukunft. dieser status relationis genügte mir, wenn sich anderes, weitergehendes nicht ergeben sollte. es geht mir um ihre anerkennung. ich fühle mich ihr und frauen wie ihr gegenüber wie ein unscheinbares, kaum bekanntes, noch nicht allzu lang unabhängiges land irgendwo in ostmitteleuropa, das fasziniert ist von frankreich, holland, england und unbedingt von ihnen anerkannt werden möchte. sie und frauen wie sie verkörpern für mich, was man gegenwärtig unter der chiffre „westen“ oder „europäische zivilisation“ zusammenfasst: die trinität aus freiheit, verantwortung und souveränität, wobei jedes element durch die beiden anderen noch verstärkt und gefestigt wird, nüchterne sympathie gegenüber jedermann statt argwöhnischem misstrauen, das geltenlassen des anderen in seinem so-sein, in seinem eigensinn und seiner eigenart, gegenseitige rüchsichtnahme, das zurücknehmen von sich selbst zur konfliktvermeidung, das möglich wird durch jene identitätsstiftenden und identitätsstabilisierende trinität aus freiheit, verantwortung und souveränität und auf scheinbar paradoxe weise durch die gesellige1 zurücknahme dieses selbst noch stärkt – vielleicht eher eine chiffre für mein gegenwärtiges verständnis und meinen entwurf von zivilisation schlechthin. aber wie sollte ich das alles jemandem, der mich nicht kennt, im vorübergehen glaubhaft vermitteln? so geht es mir ständig.2

1 ich suche nach einem wort, dass die schöpfung des menschen auf eine gemeinschaft hin beschreibt, in der sich seine eigenart und sein eigensinn erst entfalten können; mir scheint das wort geselligkeit geeignet, aber das adjektiv wird für gewöhnlich anders gelesen: die gesellige runde …
wichtig ist dabei die unterscheidung zwischen geselligkeit und gefälligkeit, die zwar beide eine gewisse umgänglichkeit im miteinander beschreiben, letztere aber von einer eigennützigen überlegung motiviert ist, während im ersten fall so etwas wie selbstlosigkeit der treibende impuls ist und die eigennützigkeit eine begleiterscheinung ist.

2 bei der gelegenheit solcher begegnungen kommt mir immer in den sinn, dass ich viel mehr menschen kennen und aus dem umgang mit ihnen bestätigung erfahren könnte, wenn ich meine heimliche begeisterung offenbaren würde – aber in der regel weiß ich nicht, wie ich beginnen soll. es ist eine scheu, andere zu belästigen.vielleicht steckt dahinter auch vielmehr die furcht vor der zurückweisung, die ich mir nur nicht eingestehen will. es geht mir mit den menschen wie mit den texten – oder eigentlich geht es bei der etablierung einer bekanntschaft mit einem menschen zuletzt auch um einen text: mir fällt so gut wie nie ein erster satz ein, ein erster satz, der weder zu bescheiden ist, dass er unbeachtet bleibt, noch zu donnernd, dass er unglaubwürdig wird, ein erster satz, aus dem sich wie am schnürchen andere sätze ergeben und meine wüsten gedanken in eine nachvollziehbare struktur gelangen, ein erster satz, der lust macht weiterzulesen – oder eben weiter zuzuhören. ich fürchte, dieses dilemma hat wie so vieles seinen ursprung in einer minderwertigkeitsempfindung, denn es ließe sich auch eine gegenteilige strategie statt der belästigungsvermeidung verfolgen, die allerdings auf der annahme gründet, zur äußerung existentiell berechtigt zu sein, eine strategie nämlich, die die mitteilung von interesse und zuneigung als freundliche geste betrachtet. jedoch besteht der zwang zur sorgfalt bei der äußerung – aus der wertschätzung des jeweils anderen heraus. denn sonst läuft man gefahr, zum ichbezogenen schwätzer zu werden, dem man mit gutem grund die frage stellen kann: und wo ist der bus mit den leuten, die das interessiert? ich finde keinen ausweg aus dem dilemma.

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